Der Ruf Der Walkueren
bemerken. Vielleicht konnte dieser Tag vorbeigehen, ohne dass er auch diesem Mann noch Schmerz zufügen musste.
Gunter drehte sich um. Hagen sah alt aus. Es war ihm vorher nie aufgefallen, denn sein Waffenmeister war immer da, wenn er ihn brauchte, und schien unerschöpflich in seinen Kräften. Doch die vergangenen Nächte hatten auch in seinem Gesicht Spuren hinterlassen. »Du solltest dich ausruhen, Hagen!«, sagte er.
Das Gesicht des Waffenmeisters war grau, als er antwortete, und er schlug dabei das Auge nieder, was er noch niemals getan hatte, vor keinem Menschen, vor keinem Gott. Gunter verstand ihn zuerst nicht, weil Hagen so leise sprach, doch dann hörte er den geflüsterten Namen, und jede einzelne Zelle seines Körpers wurde zu Eis. Sein Blick richtete sich auf den Punkt in der Dunkelheit, wo sich die Burg befinden musste, und wieder auf den Waffenmeister, als wolle er ihn bitten, das Gesagte zurückzunehmen. Dann ging er, wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen, den Hügel hinab.
Brünhild lag auf dem Boden, hingegossen wie eine römische Skulptur. Ihr Haar war ihr ins Gesicht gerutscht und verbarg den größten Teil davon vor neugierigen Blicken. Eine kleine Phiole, die ihr aus den Händen geglitten war und auf dem Boden eine violette Lache hinterließ, gab Aufschluss darüber, womit sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Hagen hatte daran gerochen und auch vorsichtig davon gekostet; es war Tollkirschenextrakt.
Der Ring war fort. Er zierte jetzt, kalt und schlafend, Andvaris Arm – zu spät. Hagen bemerkte kaum, dass sein Halbbruder sich unglücklich entfernte. Wie aus großer Distanz nahm er wahr, wie Gunter bei Brünhilds Anblick versteinerte. Lange stand der König reglos in der Tür, ehe er neben seiner toten Gemahlin niederkniete. »Geh jetzt!«, sagte er, ohne den Blick zu wenden, und seine Stimme war wie Asche. Hagen wollte etwas entgegnen, aber dann wandte er sich um, verließ den Raum und zog sacht die Tür hinter sich zu.
Gunters Blick glitt über das herrliche Weib, das seine Frau gewesen war, und jedes Detail brannte sich unauslöschlich in ihn ein. Sie musste gelitten haben. Der Raum und ihr Körper zeigten Spuren von Tobsucht, vielleicht von unkontrollierbaren Krämpfen. Vermutlich hatte sie Wahnvorstellungen gehabt; man sagte, Tollkirschensaft verursache Irrereden, Tanzlust und Zustände sexueller Erregung. Gestorben war sie an Atemlähmung. Ihr Körper war blau angelaufen. Am Schrecklichsten erschien ihm jedoch die maximale Erweiterung der Pupillen. Ihre großen Augen blickten in den Himmel, als seien sie ihr aufgetan worden, als sei der böse Traum, der sie gefangen hielt, vorbei, als sei sie endlich, endlich aus einem allzu langen Schlaf erwacht.
Behutsam nahm Gunter sie in seine Arme. Er hatte keine Tränen für die kalte, stumme Leere, die ihr Fortgehen in ihm hinterließ. Sie war gegangen, ohne ihm zu gestatten, ihr einmal wirklich nahe zu kommen. Sie hatte ihm nie die Möglichkeit gegeben, sie von der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zu überzeugen. Er fasste in ihr weiches Haar und drückte ihren Kopf an seine Brust, wo er sie wiegte wie ein Kind. Sch!, machten seine Lippen, wie um sie aufzufordern, ihm zu vertrauen, er würde schon dafür Sorge tragen, dass alles wieder ins Lot käme.
Dann fasste er sanft ihr Gesicht, schloss die Augen und küsste ihre Lippen zärtlich, verlangend, werbend. Und dieses eine, einzige Mal wehrte sie sich nicht dagegen.
IV
Winter 482
Neue Hoffnung?
1
Die Eskorte, die sie zum Schutz begleitet hatte, war auf Gunters Geheiß zurückgeblieben; Hagen und er führten die schwer beladenen Wagen allein auf den Rhein zu. Mehrmals wechselten sie dabei die Richtung, um ihre Spuren zu verwischen. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme hatte Gunter Anweisung gegeben, dass die zurückgelassenen Krieger beisammen blieben, damit niemand in Versuchung geriet, ihnen heimlich zu folgen. Der unnatürliche Wärmeeinbruch mitten im Winter war ein guter Verbündeter, weder Schnee noch Matsch behinderte die schweren Wagen mit ihrer kostbaren Fracht.
Hagen blinzelte im Sonnenlicht. Welch dunkles Verlangen brachte ihn nur dazu, den Hass der Frau, die er mit unverändertem Verlangen liebte, aufs Neue herauszufordern?
Als Sigfrids witawa hatte Grimhild von Alberich die Herausgabe des Hortes verlangt, und dem Albenkönig war nichts anderes übrig geblieben, als zeternd zu gehorchen und den Schatz auf geheimen Wegen ins Niflungenland zu bringen, wo sie ihn mit
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