Der Ruf Der Walkueren
hier.«
Die Antwort ließ Hagen lächeln. Nicht umsonst hieß sein Halbbruder Andvari, der Vorsichtige.
»Obwohl Alberichs größter Wunsch nun in Erfüllung ging, sind wir keinen Schritt weiter. Grimhild ist Sigfrids witawa . Ihr gehört somit rechtmäßig der Hort.« Bis zum heutigen Tag verstand er nicht, weshalb Sigfrid seinen Sinn geändert und sie statt der Svawenkönigin zur Frau genommen hatte. Die Runen sagten eindeutig, dass Brünhild und er einander bestimmt waren. Der unvorhergesehene Gesinnungswandel des Sachsen machte sämtliche Voraussagen zunichte.
Hagen horchte auf.
»Was ist?«, fragte Andvari.
»Sie hat aufgehört zu klagen. Es muss Oda gelungen sein, Grimhild ins Bett zu bringen.«
Der Albe sprang auf. So leicht bekamen sie keine zweite Gelegenheit, Andvaranaut zurückzuholen.
Sie betraten die Große Halle. Hagen zögerte, sich dem Leichnam zu nähern. Er hatte schon vielen Männern im Kampf das Leben genommen, aber noch nie auf ehrlose Weise. Deshalb trat er von hinten an den Toten heran, bemüht, nicht in sein Blickfeld zu geraten, und verhüllte Sigfrids Kopf, um zu verhindern, dass der Sachse als draugr , als Wiedergänger, zurückkam und ihn nachholte.
Andvaris Durchsuchung war im Handumdrehen beendet. »Er ist nicht hier.«
»Was sagst du?« Der Waffenmeister packte die steifen Handgelenke des Toten und ließ sie wieder fallen. Tatsächlich! Aber wo …? »Grimhild! Sie muss ihm den Ring abgenommen haben!«
»So lange sie ihn trägt, ist sie in Gefahr.«
Eine eiskalte Hand legte sich um Hagens Herz. Nicht Grimhild , flehte er zu Wodan. Bestraf mich für meine ruchlose Tat, aber nimm mir nicht Grimhild! Wie von Sinnen stürzte er an Andvari vorbei zu ihrem Gemach und hämmerte an die Tür. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis Grimhild öffnete.
Ihre Augen waren rot und verquollen vom vielen Weinen, ihr Haar hing ihr wirr in die Stirn. Als sie den Störenfried erkannte, verzog sich ihr Gesicht vor Hass. »Du!«, stieß sie hervor. »Was immer du mir zu sagen hast – ich will es nicht hören. Geh, und lass mir wenigstens meine Trauer, wenn dir schon sonst nichts heilig ist!« Und ohne Widerspruch zu dulden, schloss sie die Tür und verriegelte sie von innen.
»Sie trägt den Ring nicht am Arm«, stellte Andvari, der ihm gefolgt war, fest.
Der Waffenmeister nickte. Er hatte es auch bemerkt. »Vermutlich hat sie ihn zu Sigfrids persönlichen Dingen gelegt.«
Nachdenklich tippte Andvari nach Albensitte mit den Fingern gegen sein Schlüsselbein. »Dann besteht keine unmittelbare Gefahr. Es wird genügen, wenn wir Andvaranaut aus ihrem Gemach holen, während sie der Verbrennung beiwohnt.«
Hagen wollte widersprechen. Sie konnten unmöglich den Unglücksring eine weitere Nacht in Grimhilds Nähe lassen!
»Sie wird dir nicht noch einmal öffnen«, gab sein Halbbruder zu bedenken, »und wenn du ihre Aufmerksamkeit auf den Ring lenkst, machst du alles noch schlimmer.«
Andvari hatte recht. Sie konnten schwerlich gewaltsam in Grimhilds Kammer eindringen, schon gar nicht in ihrem jetzigen Zustand. Und sie würde ihnen den Ring – Sigfrids Ring! – kaum freiwillig überlassen. Nein, außer zum Mörder würde er auch zum Dieb werden müssen. Aber das spielte kaum noch eine Rolle, nachdem er bereits so tief gesunken war. Widerstrebend nickte Hagen, blieb aber unschlüssig vor der Tür stehen. »Wenn ihr etwas geschieht …«
»Du machst dir zu viele Gedanken. Sie klagt und jammert, wie es Art der Menschenweiber ist. Für etwas anderes hat sie keinen Kopf.«
Wie alle hielt Andvari sie für ein harmloses Geschöpf, wie alle sah er nicht, was sie war, wozu sie fähig sein konnte. »Du weißt nicht, was in ihr steckt«, widersprach Hagen. »Sie ist kein gewöhnliches Weib. Es gibt keine wie sie, so weit die Sonne scheint und das Korn auf den Feldern reift.«
Andvari verstand. Mitfühlend berührte er den Arm seines Bruders. »Vergiss sie! In ihrem Herzen ist kein Platz für –«
»Schweig!«, unterbrach ihn Hagen zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Wenn dir dein Leben lieb ist, sprich nicht weiter. Sprich es niemals aus, hörst du? Niemals!«
5
Schweigend trugen sie den Leichnam mit den Füßen voran durch die in die Wand geschlagene Öffnung. Hinter ihnen warteten schon Krieger, um das Loch wieder zu verschließen. Da der Körper Sigfrids verbrannt wurde, war diese Vorsichtsmaßnahme, um seine Rückkehr als Wiedergänger zu verhindern, vermutlich
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