Der Ruf Der Walkueren
Thingstätte. Die vorauseilenden Schwarzalben hatten überall Fackeln entzündet, sodass Sigfrid die unglaubliche Größe des Areals erkennen konnte. Sie standen am Rande eines kreisrunden Abgrunds. Ringsum waren Stufen in den Fels gehauen, die spiralförmig in die Tiefe liefen. Den ganzen Weg hinunter steckten Fackeln in den Wänden und erhellten einen goldenen Glanz, dessen Spiegelung bis nach oben geworfen wurde. »Wir nennen es schlicht: die Halle «, sagte Alberich.
Wie betäubt betrat Sigfrid die schmalen Stufen und folgte ihnen nach unten. Wo das Licht hin traf, schimmerte und blitzte es in allen Regenbogenfarben. Er hatte noch niemals solch eine Pracht, solchen Lichterglanz gesehen. Vor ihm breiteten sich Goldstücke, Broschen und glitzernde Amulette aus. Uralte, reich verzierte Schwerter, die den Geist längst untergegangener Sippen in sich trugen, lagen neben silbernen Spangen und Fibeln in Form von Tieren, dazwischen Armringe und Edelsteine, die das Licht in einer Explosion aus Farben brachen. Achate, Smaragde, Rubine. Wasserklare Bergkristalle, von denen man sagte, dass es sich um Eisstücke handelte, so hart gefroren, dass die stärkste Glut sie nicht schmelzen könne. Amethyste in Violett- und Purpurtönen, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.
Sigfrid war wie berauscht. Nimm dir alles! Trag es fort, bevor es dir jemand stiehlt! Schnell! In fliegender Hast raffte der Junge Arme voll Gold und Edelsteine zusammen. Weiter! Weiter! Je mehr er an sich riss, desto mehr fiel herunter, und je mehr herunterfiel, desto gieriger griff er danach.
Plötzlich kam ihm die Torheit seines Verhaltens zu Bewusstsein. Was machte er hier? Hatte er nicht seine Sippe verlassen, um Heldentaten zu vollbringen? Was sollte er da mit einem Schatz, der ihn nur behinderte? In diesem Versteck hatte der Hort Jahrhunderte ungestört gelegen, also konnte er auch weiterhin hier liegen. Beschämt ließ Sigfrid die Kostbarkeiten fallen, obwohl eine Stimme in ihm protestierte. »Ich … nehme an, dass der Schatz hier sicher ist«, sagte er mit sehnsüchtiger Stimme. »Es genügt zu wissen, dass ich jederzeit darauf zurückgreifen kann.«
Die Schwarzalben atmeten hörbar auf.
Noch einmal füllte der Junge sein Herz mit dem Anblick von so viel unvergleichlicher Schönheit, dann wandte er sich ab und stieg die Stufen nach oben.
Zurück ging es wesentlich leichter. Sigfrid kannte jetzt den Weg, außerdem lenkte ihn die Erinnerung an die Pracht des Hortes von den Schrecken der Dunkelheit ab.
Alberich beobachtete ihn eine Weile. Schließlich näherte er sich ihm und sagte im Plauderton: »Es wundert mich, dass ein Krieger wie du kein Weib hat.«
»Wenn ich meiner Sippe Ehre gemacht habe, ist noch Zeit genug, mir eine Frau zu suchen.«
»Ich weiß eine Königin, schön und tiefgründig wie ein dunkler See.«
Sigfrid ließ eine Pause verstreichen, ehe er betont beiläufig antwortete. »Und wo wohnt diese Königin?«
»In Svawenland. Sie heißt Brünhild und herrscht über Burg Seegard am Rande des Svawenwaldes.«
Er wusste, wovon der Albe sprach. Das kleine Königreich grenzte südlich an das Land seines Vaters, und natürlich hatte er bisweilen den Namen der Königin nennen hören.
Alberich blickte ihn schlau an. »Es ist nicht weit von hier. Du musst nur durch den Svawenwald reiten, dann erreichst du morgen um diese Zeit ihre Burg. Du kannst sie nicht verfehlen.«
Sigfrid schwieg, doch in seinem Inneren arbeitete es. Warum löste der Gedanke an eine Frau nur solches Herzklopfen in ihm aus?
Sie erreichten den Ausgang der Höhle. Der Anblick des Tageslichts erleichterte ihn mehr, als er sagen konnte. Ein freier Mann brauchte den offenen Himmel über sich. Ausgiebig begrüßte er seinen Hengst, als hätte er nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Doch schnell kehrten seine Gedanken zu der Svawenkönigin zurück. »Ist … ihr Herz noch frei?«, wollte er wissen.
Alberich lächelte zufrieden. »Finde es heraus!«
Die Schwarzalben sahen Sigfrid nach, während er auf seinem Pferd ihren Blicken entschwand. Sobald sie allein waren, fielen sie in die Alte Sprache zurück.
»Du hast uns dem sicheren Untergang preisgegeben, um deine Haut zu retten.« Andvari gab sich Mühe, einen Rest Respekt in der Stimme mitschwingen zu lassen, aber Verachtung und Zorn waren deutlich herauszuhören.
»Du nennst mich einen Verräter an meiner Sippe?«
Andvari biss sich auf den Knöchel seines linken Ringfingers, eine
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