Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Zentimeter hoch teeriges, faulendes Salzwasser stand. Er war hier drinnen eingesperrt worden, ohne Essen oder Wasser, das er trinken konnte, vor Tagen schon – er war sich nicht sicher, vor wie vielen. Die Erbauer des Schiffes hatten den Raum mit Metallblech versiegelt, um die Ratten fernzuhalten und zu vermeiden, dass der Bewohner dieser Schreckenskammer selbst für Nachschub an frischem Fleisch sorgte. John war nackt, er fror, er war blutverkrustet von zwanzig Hieben mit der Peitsche. Es hätte schlimmer kommen können. Rose war so versessen darauf gewesen, mit der allgemeinen Bestrafung fortzufahren, und so sicher, dass das Loch John umbringen würde, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, die Zahl der Schläge anzuordnen. John fragte sich, wie die Seeleute das allzeit drohende Damoklesschwert des Auspeitschens aushielten. Er hatte gehört, dass fünfzig oder gar hundert Hiebe nicht ungewöhnlich waren auf dem Schiff eines Kapitäns, der gern mal zur Peitsche griff.
Die Zeit zog sich hin. Er hatte Schmerzen. Hunger hatte er nicht mehr, aber der Durst quälte ihn. Seine Schulter tat weh. Es war erst drei Wochen her, dass er in Calais verwundet worden war. Hatte er genug Kraft, um Rose zu trotzen? Vielleicht hatte der Lieutenant ihn vergessen. Vielleicht würde er hier drinnen in alle Ewigkeit verrotten. Und was war mit Faraday? Er hatte nicht gehört, dass einer der Wachmänner mit diesem Namen angesprochen worden war. Kein Wachmann hatte ihm ein Zeichen gegeben. Vielleicht hätte Faraday das Auspeitschen nicht verhindern können, aber er hätte dafür sorgen können, dass John etwas Wasser bekam. John wollte nicht daran denken, dass es gar keinen Faraday geben könnte oder dass er, falls es ihn gab, beschlossen hatte, John nicht zu helfen. Das würde bedeuten, dass er auf verlorenem Posten gegen Rose und das Gefängnisschiff stünde. Konnte er sich nicht einfach hinstellen und sagen: »Eigentlich bin ich Engländer und arbeite für die Regierung!«, falls es zu schlimm wurde? Sein Englisch war perfekt. Sein Französisch aber auch. Würde ihm irgendjemand glauben? Würde irgendjemand sich die Mühe machen, nach Barlow zu schicken? Er konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Rose das eine oder das andere tun würde.
Es spielte keine Rolle. Wenn er aufstand und verkündete, dass er Engländer sei, war die Mission gescheitert. Barlows größte Chance herauszufinden, wer im Zentrum des französischen Netzwerks die Fäden zog, wäre vertan. John konnte das nicht zulassen. Und er würde es nicht zulassen. Er würde ausharren.
Solche Gedanken kreisten in seinem Kopf, bis er irgendwann in einen Dämmerschlaf fiel. Dann kamen die Träume, ob er wollte oder nicht. Träume waren noch nie seine Freunde gewesen. Er hatte von Cecily oder Angela geträumt, von den Auseinandersetzungen mit seinem Vater, nachdem er vom Kontinent zurückgekehrt war und den Zustand des Verfalls gesehen hatte, in dem sich Langley Court befand. Manchmal träumte er davon, dass er als Agent enttarnt wurde und alle Geheimnisse seines Landes preisgab, allein schon bei dem Gedanken an Folter. Aber diesmal waren seine Träume anders.
Nein, diesmal war es Beatrix Lisse, die ihn quälte – oder rettete. Er fühlte eine seltsame Verbindung zu ihr während der langen dunklen Stunden im Loch. Er träumte von dem Waffenstillstand, den sie nie eingehalten hatten, träumte davon, wie er des Nachts mit ihr ausritt, ihre Pferde stark zwischen ihren Schenkeln, die Landschaft flog an ihnen vorbei. Und sie lachte mit dieser vollen, heiseren Altstimme, die ihr zu eigen war. Sie war so lebendig! Manchmal träumte er davon, sie in einer riesigen, dunklen Kathedrale in seinen Armen zu halten. Und sie würde zu ihm hochschauen. Tränen würden an ihren dunklen Wimpern glänzen. Ihr Blick wäre heiß und verlangend. In der Luft würde dieser unglaubliche Zimtduft liegen, den sie trug. Er würde sie zu einer Kirchenbank führen. Ihr Körper war reif für ihn und rief nach ihm, und er war stark und lebendig.
Immer, wenn er in der pechschwarzen Nässe wieder zu sich kam, erkannte er, wie dumm er war. Er wusste, dass diese Träume nur dem Fieberwahn entsprangen. Doch der Trieb zu leben, der so allgegenwärtig in diesen Träumen war, fand den Weg in seine dunkle Hölle und gab ihm Kraft.
»Ich habe dir ja gesagt: Sei nicht zu großzügig!«, tadelte Reynard ohne Groll. Er half John, sich seitwärts auf eine dünne Strohmatte zu legen, sodass er sich auf einen
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