Der Ruf des Abendvogels Roman
Mädchen, aber ich fürchte, Sie kommen zu spät.«
»Steht es wirklich so schlecht?«
»Nun, es steht nicht gerade gut. Wegen der Wirtschaftskrise sind die Schafe und ihre Wolle so gut wie wertlos geworden, und wir haben nur noch sehr wenige Rinder. Ihre Tante ist eine fabelhafte Frau, eine der Besten, und ich würde auch ohne Bezahlung arbeiten – aber die Männer müssen ihr Geld bekommen ... Wenn die Farm mir gehören würde, würde ich verkaufen. Ich weiß, dass es hart ist, aber manchmal bleibt einem keine andere Möglichkeit.« Wieder wandte er sich zum Gehen.
Tara dachte blitzschnell nach. Wo sie jetzt schon einmal dieMöglichkeit hatte, gab es noch etwas anderes, was sie Tadd Sweeney sagen wollte. »Mr. Sweeney, ich würde gern noch über etwas anderes mit Ihnen sprechen.«
Er blieb stehen und wandte sich um. Obwohl er schon leicht unmutig wirkte, zwang er sich sichtlich, freundlich zu bleiben. »Ja, Mädchen?«
»Ist Ihnen eigentlich schon aufgefallen, wie sehr es Nerida trifft, wenn Sie abfällige Bemerkungen über Aborigines machen?«
Tadd starrte sie an, als hätte sie soeben behauptet, der Mond bestehe aus Butterkäse.
»Nein, Mädchen«, stieß er hervor, und nun gelang es ihm nur noch schwer, seinen Unmut zu zügeln. »Das ist mir nicht aufgefallen, aber ich würde ihren ... Launen nicht zu viel Bedeutung beimessen.«
»Ich brauche Ihnen doch sicher nicht zu sagen, dass zum Beispiel wir Iren stolz auf unsere Kultur sind, nicht wahr?«, fuhr Tara unbeirrt fort.
»Ja, das sind wir.«
»Ich denke, es wäre angebracht, Neridas Kultur gegenüber ein wenig einfühlsamer zu sein. Es ist nie sehr klug, Dinge zu verallgemeinern, wenn man über Menschen spricht.« Tara erinnerte sich an all die abfälligen Bemerkungen, die die Zigeuner von den Siedlern hatten hinnehmen müssen, und sie wusste, was es hieß, am unteren Ende der Skala zu stehen.
Tadds Augen wurden schmal. »Sie wollen doch wohl nicht die Iren mit den Aborigines vergleichen, oder?« Er war vollkommen fassungslos, und das ärgerte Tara maßlos. »Abos haben keine Kultur«, fügte er noch hinzu.
»Wie können Sie so etwas sagen?«
»Weil es wahr ist.«
»Wo immer ein Mensch geboren und aufgewachsen ist, er sollte als Individuum gesehen und nicht mit allen anderen über einen Kamm geschoren werden!«, beharrte Tara.
»Schauen Sie, Tara, Sie sind gerade erst hier angekommen und wissen noch nicht viel über die Abos und die Art, wie Dinge hier im Outback geregelt werden. Man muss streng mit ihnen sein und ihnen zeigen, wo ihr Platz ist. Manchmal gehen sie einfach fort und tun, was sie wollten.«
»Man hat mir erzählt, sie seien Nomaden.«
Tadds Blick wurde hart. »Wenn wir sie anstellen, sollten sie schon hier bleiben. Ich werde ganz sicher nicht anfangen, auf alles zu achten, was ich sage, nur um sie nicht zu beleidigen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss wieder an die Arbeit.«
Tara war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte gehofft, mit Tadd Sweeney zurechtzukommen, aber er war so furchtbar engstirnig. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie in Zukunft noch öfter aneinander geraten würden – spätestens wenn sie die Zustände im Hundezwinger ansprach.
Tara nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich zu beruhigen und sich für ihre Begegnung mit Sanja zu wappnen. Sie hoffte – im Interesse der Kinder genauso wie in ihrem eigenen –, dass sie sich mit dem Koch einigen konnte, aber wenn er auch nur ein bisschen so war wie Tadd Sweeney ...
Als sie die Küche betrat, stand Sanja mit dem Rücken zu ihr am Spülstein. Er hörte sie hereinkommen und nahm an, es sei Nerida. »Sieh mal, all das schöne Essen kommt zurück«, rief er. »Missy Victorias Familie isst wie die Spatzen! Verschwendung ist schlecht – sie bekommen dasselbe heute Abend noch einmal!« Stirnrunzelnd wandte er sich um und blieb erschrocken stehen.
»Hallo«, sagte Tara furchtlos. »Ich bin Victorias Nichte.«
Sanjas Stimmung hellte sich sichtlich auf. »Ah, Missy Tara!«
Tara lächelte.
Der Anfang war nicht schlecht, denn der Koch schien sich zu freuen, sie kennen zu lernen.
Sanja hatte dünnes, ordentlich gekämmtes schwarzes Haar und ein nettes, rundes Gesicht. Am meisten verwundert war siejedoch darüber, wie klein er war. Tara hatte sich den Mann, der Nerida Angst machte und seine Untergebene mit Drohungen und Wutanfällen traktierte, viel größer vorgestellt. Als sie auf ihn zu ging, sah sie, dass seine Augen von einem warmen,
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