Der Ruf des Abendvogels Roman
persönlichen Angelegenheiten herumschnüffeln würden, lasse ich die Sache einfach auf sich beruhen. Aber ich kann wirklich nicht verstehen, worüber du dir Sorgen machst.«
Nach einem wachsamen Blick zur Flurtür meinte Tara leise: »Ich habe dir bisher nichts davon gesagt, Tante Victoria, aber ich habe die Kinder unter falschen Vorspiegelungen mitgenommen. Ich habe den Behörden gegenüber behauptet, ich sei Maureen O’Sullivan. Sie glauben, dass Tara Flynn bei dem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist.«
Victoria starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. »Wie um Himmels willen ist dir das nur gelungen?«
»Ich habe die Toten identifiziert, und ein Mitglied der Mannschaft hat dabei mitgespielt. Der Mann heißt James O’Brien und hat selbst als Waise in einem staatlichen Heim schreckliche Erfahrungen gemacht. Deshalb hat er mir geholfen. Es war der einzige Weg, Port Adelaide mit den Kindern zu verlassen.«
Victoria war sichtlich erschrocken. »War es wirklich nötig, so weit zu gehen, Tara?«
Tara nickte. »Ich war völlig verzweifelt. Während wir im Zollhaus warteten, wurden Sorrel und ich Zeugen, wie Beamte der Einwanderungsbehörden einem Kindermädchen ein Baby entrissen, dessen Eltern beide umgekommen waren. Das arme Mädchen war außer sich vor Kummer, denn sie hatte sich seit dessen Geburt um den kleinen Thomas gekümmert – aber die Behörden waren unerbittlich. Sie bot sogar an, das Kind zu seinen Verwandten nach Irland zurückzubringen – vergeblich.« Allein dieErinnerung an den Kummer des Mädchens trieb Tara die Tränen in die Augen. »Da begriff ich, dass ich keine Aussicht hatte, die Kinder bei mir zu behalten, auch wenn es genau das war, was ihre Eltern sich gewünscht hätten. Die einzige Verwandte, von der Maureen mir erzählt hat, war eine Schwester in Irland. Die hat sie aber regelrecht gehasst, weil diese ihre eigenen Kinder wie Sklaven behandelt. Ich hatte keine andere Möglichkeit, ich musste mich als Maureen O’Sullivan ausgeben. Leider kann es durchaus sein, dass die Behörden inzwischen die Wahrheit herausgefunden haben. Wahrscheinlich werde ich sogar offiziell gesucht.«
Tadd fand Percy Everett im Hotel, wo dieser gerade mit Ferris und einigen der Farmer und Viehtreiber, die in der Stadt waren, einen Drink nahm.
»Wie kommt diese Frau mit dem Leben auf der Farm zurecht?«, erkundigte sich Percy ironisch nach Tara. »Ich hätte nicht geglaubt, dass sie es länger als fünf Minuten dort draußen aushält!«
Tadd merkte, dass die Männer aufhorchten – sie hatten alle über ihre Funkgeräte von Taras Ankunft erfahren.
»Sie hält sich gar nicht schlecht«, gab er widerwillig zu. »Besser, als ich dachte. Aber auf die Dauer ist sie wohl nicht für ein Leben im Outback geschaffen!« Die Uhr in seiner Hemdtasche fiel ihm ein. »Hier, das soll ich dir von ihr geben. Sie sagte irgendetwas wie, du hättest sie im Badezimmer vergessen.«
Beim Anblick der Uhr wurde Percy blass, denn er wusste genau, wo er sie vergessen hatte; und das war nicht im Badezimmer des Hotels gewesen! Er fühlte sich über alle Maßen gedemütigt.
»Ist mit dir alles in Ordnung, Percy? Du bist so weiß wie saure Buttermilch!«
»Ja, ja – mir macht heute nur die Hitze zu schaffen. Komm, lass uns einen Drink nehmen!«
Tadd schüttelte den Kopf. »Oh nein, zuerst das Geschäft, Percy. Ich muss für Tara ein Telegramm abschicken.«
»Was für ein Zufall – für die Farm ist auch ein Telegramm gekommen, vor ungefähr einer Stunde. Ethan war gerade fort, deshalb habe ich es erst einmal zur Seite gelegt.«
»Hat Ethan die Post für Tambora mitgenommen? Normalerweise hole ich sie doch immer ab!«
»Ja, Ethan hat sie mitgenommen.«
Tadd war besorgt, denn er erwartete etwas, das Victoria nicht sehen sollte. »Welchen Weg hat er genommen?«
»Hinaus zu den MacDonalds und dann weiter zu Sadies Farm.«
Tadd entspannte sich. In diesem Fall würde er vor Ethan in Tambora sein und die Post selbst sortieren, wenn sie kam.
»Unter uns: In dem Telegramm geht es um Tara Flynn«, raunte Percy ihm zu.
»Oh! Ist es an sie gerichtet?«
»Nein, an die Verwandten von Mrs. Tara Flynn, also wohl an Victoria. Es kam den ganzen Weg von Irland herüber.«
Im Laden händigte Percy Tadd das Telegramm aus und sendete dann Taras Telegramm an Sorrel Windspear. Ethan hatte schon mit ihm und Ferris und einigen der anderen Männer über Victorias Brille und den Erlös des Wohltätigkeitsfestes gesprochen, sodass ihn der
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