Der Ruf des Abendvogels Roman
vielleicht jemand anderem begegnen ... Ich bin froh, dass du Pläne für eine Zukunft ohne mich machst, ich wünschte nur, ich könnte dir dabei helfen!« In seinen dunklen Augen stand jetzt abgrundtiefer Schmerz, und er ließ den Kopf sinken.
Eine kalte Hand schien nach Taras Herz zu greifen, und wieder spürte sie Schuldgefühle in sich aufsteigen. Sie hatte tatsächlich Pläne für eine Zukunft ohne Garvie gemacht, ohne zu ahnen, dass ihm vielleicht eine lange Haftstrafe bevorstand – oder sogar Schlimmeres. Plötzlich sah sie die Dinge ganz anders, ihr Plan erschien ihr auf einmal vollkommen bedeutungslos. »Mach dich nicht lächerlich, Garvie – ich bin deine Frau, in guten und in schlechten Tagen ...«
Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Meine liebe, süße, treue Tara! Du bist ein Engel, aber du musst jetzt allein weitermachen – und tapfer sein. Ich habe Jake gesagt, dass er sein Geld bekommt. Anscheinend glaubt er mir nicht ...«
»Aber warum nicht? Das hast du mir immer noch nicht gesagt.«
»Es könnte sein, dass ich zwanzig Jahre hier drin bleiben muss – wenn ich Glück habe. Wenn nicht ... werden sie mich in einer Kiste hier heraustragen.«
Tara hätte vor Entsetzen beinahe das Bewusstsein verloren. »Nein! Aber sie werden dich doch nicht ... hängen?«
»Jake hat einen Anwalt für mich bezahlt – aber du weißt ja, die Rechtsprechung hier ist nicht günstig für Zigeuner, besonders für jemanden mit meiner Vorgeschichte. Ich hatte keine Chance. Jetzt schulde ich Jake fast fünfzig Pfund. Aber ich schwöre dir, wenn ich es schaffe, zahle ich sie ihm zurück. Wenn du einen Ort hast, wohin du gehen kannst, vielleicht dein Cottage am Meer, dann gib ihm den Wohnwagen, wenn es nicht anders geht, Tara. Vielleicht lässt er dich dann in Ruhe. Ich einige mich schon irgendwie mit ihm ...«
Tara schob ihren Stuhl zurück und starrte Garvie an, als sei er ein Fremder. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Goldreifen aus seinen Ohren verschwunden waren und ebenso die Kette, die er immer um den Hals getragen hatte. Sie hatte ihn kaum jemals ohne diesen Schmuck gesehen. Er besaß fast keine Ähnlichkeit mehr mit dem Mann, den sie als ihren Ehemann kannte. »Vergiss den Wohnwagen und das Geld, Garvie – wir sprechen hier über dein Leben!«
Garvie erkannte Taras Entsetzen, und er bereute schon, ihr die Wahrheit gesagt zu haben. Sie war so sehr von Mitgefühl erfüllt, dass sie wahrscheinlich nichts unversucht lassen würde, seine arme Seele zu retten, bis sie krank davon wurde. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Vielleicht hängen sie mich ja auch gar nicht. Dann bekomme ich zwanzig Jahre, und ich bin noch nicht so alt, dass ich nie wieder Tageslicht sehen würde! Ich bitte dich, mach dir um mich keine Sorgen!« Er versuchte zu lächeln, doch es fiel nicht sehr überzeugend aus.
»Wie kannst du mir sagen, ich soll mir keine Sorgen machen? Ich könnte Jake dafür umbringen, dass er Geld von mir fordert statt mir zu sagen, dass ich meinen Mann vielleicht nicht wiedersehe! Dieser Kerl ist ein gemeiner Schuft!«
»Die Zeit ist um, Flynn!«, sagte der Wärter.
Tara erschrak. »Warten Sie – bitte nur noch ein paar Minuten!«
Der stumpfgesichtige Mann schüttelte den Kopf.
Tara griff in ihre Geldbörse und zog eine Zehn-Schilling-Noteheraus, genau wie der Wärter es erwartet hatte. Diese schob sie ihm verstohlen zu, gerade, als andere Besucher den Raum betraten. Der Wärter hüstelte und griff hastig nach dem Geld, das er in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Dann verschränkte er die Hände auf dem Rücken und starrte mit sehr zufriedener Miene geradeaus.
Tara wandte sich wieder ihrem Mann zu. Garvie war wütend, weil sie den korrupten Wärter bestechen musste, nur damit sie ein paar Minuten mehr miteinander verbringen konnten. Er hatte schließlich seit mehr als drei Wochen keinen Besuch mehr gehabt.
»Was hast du getan, was werfen sie dir vor, dass du ein so hartes Urteil befürchten musst?«, flüsterte Tara. Sie zweifelte kaum daran, dass Garvie schuldig war, denn er war noch nie völlig unschuldig gewesen, doch sie wollte ihn das nicht spüren lassen.
Garvie starrte sie an, und seine Gedanken gingen zurück zu dem Abend, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das Bild stand so klar vor ihm, als sei es erst gestern gewesen. So schön, so verletzlich hatte Tara ausgesehen, und so vollkommen durcheinander und verzweifelt war sie gewesen! Ihre Seele war zutiefst verletzt, und er
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