Der Ruf des Abendvogels Roman
hatte nicht geglaubt, dass sie jemals wieder darüber hinwegkommen würde. Trotz der vielen Jahre, die seitdem verstrichen waren, stieg jedes Mal frische Wut in ihm auf, wenn er daran dachte, was Stanton Jackson ihr angetan hatte.
Stanton Jackson! Wenigstens hatte der keine Gelegenheit gehabt, je wieder eine lebende Seele zu verletzen. Garvie senkte den Blick auf die Tischplatte und schloss für einen Moment die Augen. »Ich schwöre dir, ich hatte keine Ahnung!«, flüsterte er.
»Keine Ahnung wovon, Garvie?« Taras Beklemmung wuchs. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie wurde sich plötzlich der anderen Besucher bewusst, die nicht weit entfernt saßen.
»Erinnerst du dich noch an den Abend, als wir uns zum ersten Mal gesehen haben, Tara?«, fragte Garvie leise, ohne aufzublicken.
»Natürlich«, flüsterte sie verwundert. »Wie könnte ich das vergessen?«
Wieder nickte Garvie. »Du warst so verzweifelt. Ich wusste nicht, wie ich dir helfen konnte und was ich tun sollte ...«
»Du hast mir aber geholfen, Garvie. Sehr sogar. Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte!«
»Es war nicht genug.«
»Du hättest sonst nichts tun können. Mein Vater war der Einzige, der die Möglichkeit gehabt hätte, aber er hat nichts unternommen.« Tara fühlte sich verwirrt. »Was willst du mir sagen, Garvie? Ich verstehe nicht ...«
»Ich bin als Ehemann ein elender Versager gewesen, das weiß ich, aber du musst mir glauben, dass ich dir gegenüber nur gute Absichten hatte.«
Tara konnte nicht leugnen, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte sie oft, sehr oft im Stich gelassen, aber sie hatte immer gewusst, dass er sie niemals hatte verletzen wollen. Er war nur einfach nicht der richtige Mann für sie gewesen. Er war im Grunde genommen kein schlechter Mensch, er war nur nicht für die Ehe geschaffen. Er hatte einen sicheren Instinkt für Schwierigkeiten, in die er oft – entschieden zu oft – hineingeriet.
»Was du sagst, ergibt keinen Sinn, Garvie. Ich weiß, dass du immer nur die besten Absichten hattest. Aber warum sprichst du jetzt von diesem ersten Abend?«
Seit jenem Tag hatten sie niemals mehr über das gesprochen, was geschehen war. Garvie hatte gefunden, dass man es am besten vergessen sollte. Er ahnte nicht, dass Tara fast jeden Abend, wenn sie die Augen schloss, an diese Nacht denken musste, jedes Mal, da er sie berührte. Aber sie sprach mit niemandem darüber.
»Dieser Abend hat viel damit zu tun, dass ich hier bin«, sagte Garvie. Er richtete sich auf und nahm die Hände auseinander.
Tara sah ihn an und wartete auf eine Erklärung. Entsetzliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch sie brachte sie nicht über die Lippen. Irgendwann konnte sie die Spannung nicht mehr ertragen. »Ist in dieser Nacht irgendetwas passiert, von demich nichts weiß? Hast du jemandem etwas ... Du hast meinem Vater doch nichts getan, oder, Garvie?«
»Stanton Jackson«, sagte Garvie schlicht.
Tara erstarrte. Sie hatte diesen Namen seit vielen Jahren nicht gehört und nicht geahnt, dass Garvie sich überhaupt noch an ihn erinnerte. Allein ihn nur zu hören verursachte ihr körperliche Schmerzen, doch etwas anderes beunruhigte sie noch mehr. Sie hoffte und betete, Garvie möge nicht für sie Rache genommen haben! »Was ist mit ihm?«, flüsterte sie.
Garvie blickte auf, mit Augen, die seine Gefühle spiegelten. »Ich wollte ihn umbringen für das, was er dir angetan hat.«
Tara stieß erschrocken die Luft aus. »Nein ... Garvie, nein!« In ihren Augen glänzten jetzt Tränen.
Garvies Miene war voller Verzweiflung, als er die Enttäuschung in ihrem Blick erkannte. Unfähig, sie weiter anzusehen, ließ er den Kopf wieder sinken. »Ich muss es dir sagen, Mädchen!«
»Nein!« Tara sprang auf und stieß dabei die Bank so heftig um, dass diese zu Boden fiel.
»Es tut mir Leid, aber ich sorge mich um deine Sicherheit«, beharrte er mit einem Seitenblick auf den Wärter, und Tara wurde von neuem bewusst, dass dieser jedes Wort ihres Gesprächs mithörte. Wieder sah Garvie sie an, und in seinem Blick stand die flehende Bitte um Verständnis.
An dem Abend, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Taras Familie eine Party für sie gegeben, die ihr Debüt in der Gesellschaft hatte werden sollen. Während sie draußen frische Luft geschöpft hatte, war sie von einem Mann überfallen worden, der für ihren Vater arbeitete. Blind vor Tränen und Schmerz war sie mit zerrissenem Kleid in den Wald gelaufen und
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