Der Ruf des Abendvogels Roman
Vieh verglichen zu werden. Aber Lottie lachte nur. Dann berichtete sie weiter, es herrsche allgemein große Enttäuschung darüber, dass nun keine der beiden Frauen zu den Rennen erschienen war. Belle hatte aber einige der Männer belauscht, die einen Besuch auf der Farm unter dem Vorwand planten, Arbeit zu suchen. Lottie behielt aber lieber für sich, dass die Arbeiter, die sämtlich Jungegesellen waren, Wetten darüber abgeschlossen hatten, ob Tara und Elsa sich für Zuchtzwecke eigneten.
Tara war ein wenig verwundert darüber, dass sie und ihre Mutter so viel Neugier geweckt hatten. Sie fragte sich im Stillen, was all diese Männer wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie und Elsa Zigeunerblut in den Adern hatten.
Elsa und Tara speisten allein im Esszimmer. Tadd hatte Sanja angewiesen, ihm sein Essen zum Cottage hinüberzubringen, wo er für sich sein konnte, und Tara war darüber sehr erleichtert.
In der Tischmitte stand ein großer Kandelaber, und Elsa hatte die Tafel mit Victorias bestem Silberbesteck, chinesischem Porzellan und feiner Tischwäsche für fünf Personen gedeckt.
»Es sieht so aus, als ob wir unter uns bleiben werden«, meinte sie, während sie ein wenig verlegen drei Gedecke wieder abräumte.
Tara wusste Elsas Mühe wohl zu schätzen, doch es war seltsam, zum ersten Mal nach so vielen Jahren wieder eine Mahlzeit ganz allein mit ihrer Mutter einzunehmen. Das Gespräch verlief entsprechend am Anfang auch sehr steif.
»Der Tisch ist ... sehr schön gedeckt«, meinte Tara.
»Danke«, erwiderte Elsa. »Victoria hat hübsche Tischwäsche und schönes Besteck.«
Danach herrschte ein unbehagliches Schweigen. Tara spürte, dass ihrer Mutter immer noch auf ihre Vergebung hoffte. – Aber dass Elsa wirklich geglaubt hatte, sie habe sich einfach dem erstbesten Zigeuner in die Arme geworfen und die ungeheuerliche Geschichte um Stanton Jackson schlicht erfunden, schmerzte noch zu sehr und stand zwischen ihnen wie eine unsichtbare Wand. Schließlich fand Tara den Mut, sich nach ihren Brüdern zu erkundigen.
»Was machen Liam und Daniel jetzt? Sind sie verheiratet, und haben sie schon Kinder?«
Elsa ließ die Gabel sinken. »Nachdem du fortgegangen warst ...«, begann sie. Tara wirkte plötzlich sichtlich angespannt, und Elsa erkannte ihren Fehler sogleich. »Nach ... dem Tod deines Vaters ist Liam zur See gegangen.«
Tara konnte ihr Erstaunen nicht verbergen und fragte sich, ob ihre Mutter ihr wohl die Schuld daran gab, dass Liam die Farm verlassen hatte.
»Weißt du nicht mehr, wie sehr ihn alles interessierte, was mit Seefahrt zu tun hatte?«, fragte Elsa.
»Ich erinnere mich noch, dass er immer Bücher über das Meer gelesen hat«, meinte Tara. »Besonders ›Moby Dick‹ von Herman Melville. Er hat darin gelesen, wann immer er konnte.«
Elsa seufzte. »Deinem Vater und mir zuliebe hat er versucht, ein Interesse für die Landwirtschaft zu entwickeln, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Als er fast erwachsen war, hat er oft davon gesprochen, dass er gern in der Handelsschifffahrt arbeiten würde. Nach dem Tod deines Vaters habe ich ihn ermutigt, sich seinen Traum zu verwirklichen. Er zögerte, weil er glaubte, ich würde ihn brauchen, aber schließlich habe ich darauf bestanden.« Sie verschwieg, dass sie die Farm nach Ninians Tod ohnehin nicht hätten halten können – die Schuldenlast war schon zu groß gewesen.
»Und was ist aus Daniel geworden? Er hat doch die Arbeit auf der Farm sehr geliebt.«
Elsa lächelte traurig. »Ja, aber um ehrlich zu sein, ist er trotzdem nie ein sehr guter Farmer gewesen.«
»Was macht er jetzt?«
»Er hat eine Engländerin geheiratet und lebt in Cornwall. Aileen erwartet gerade ihr erstes Kind.«
»Oh!« Tara musste lächeln, als sie sich ihren Bruder als Vater vorstellte. Als sie fortgegangen war, war er ein linkischer Teenager gewesen, der voller Streiche steckte. Es war schwierig, sich ihn als verantwortungsvollen Familienvater vorzustellen. »Wovon leben sie?«
Elsa wirkte einen Augenblick lang verlegen. »Er arbeitet mit Aileens Vater und Brüdern zusammen ... in einer Zinnmine.«
Tara starrte sie mit offenem Mund an.
»Ich glaube, er ist glücklich, Tara, und nur darauf kommt es an.«
Tara war über Elsas Bemerkung zutiefst verblüfft, und das sah man ihr an.
Elsa legte Messer und Gabel beiseite. »Du hättest nie gedacht, dass du mich so etwas einmal sagen hören würdest, nicht wahr? Dass es wichtiger ist, glücklich zu sein, als
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