Der Ruf des Abendvogels Roman
ist doch nicht dein Ernst? Es gäbe sicher viele, die es nötiger hätten.«
»Es ist uns damit sogar sehr ernst.« Ethan warf einen Blick auf den Scheck, den Percy ihm reichte, und schien sichtlich verwundert über die Summe, die zusammengekommen war. »Das dürfte für deine Fahrt nach Alice und die neue Brille reichen, und vielleicht noch für ein gutes Essen im Stuart-Arms-Hotel.« Damit reichte er Victoria den Scheck und sah, dass deren Hände zitterten. »Nimm es ruhig an – ich überreiche es dir im Namen der Einwohner von Wombat Creek und der ganzen Umgebung.«
In der halb besetzten Bar, in der die Farmer das große Ereignis des vergangenen Tages nachfeierten, erscholl kräftiger Applaus, und Victoria liefen Tränen der Rührung über die Wangen. Sie wandte sich zu Riordan um. »Das kann ich nicht annehmen!«
»Oh doch, das kannst du!«, erwiderte er.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll ...«
»Wie wäre es mit ›Danke‹?«, meinte Ethan lachend.
Victoria blickte in die lächelnden Gesichter ihrer Nachbarn und Freunde. »Ich möchte euch allen ganz herzlich danken«, sagte sie bewegt. »Ich fühle mich sehr geehrt, aber auch ein wenig verlegen, weil mir viele Dinge einfallen, für die das Geld sinnvoller verwendet werden könnte. Sadie zum Beispiel braucht einen neuen Regenwassertank ...«
»Bob Reynolds hat den alten wieder zusammengeflickt, und jetzt leckt er nicht mehr«, rief Sadie aus der Ecke, in der sie im Wombat-Creek-Hotel immer saß.
»Noonie Jacobs Dach stürzt fast ein ...«
»Das ist auch längst repariert«, erklärte Sadie mit breitem Grinsen und ließ ihren einzigen Zahn sehen, der ungefähr denselben Grauton hatte wie ihre Haare.
Riordan legte Victoria den Arm um die Schulter.
»Weiß Tara davon?«, erkundigte sie sich bei Ethan.
»Ja, das tut sie.«
Victoria lächelte. Jetzt wusste sie endlich, warum Tara so sicher gewesen war, dass sie das Geld für ihre Fahrt zusammenbekommen würden.
Jacks lauter Schrei riss Tara aus tiefem Schlaf. Sie sprang aus dem Bett und lief zu seinem Zimmer.
»Jack, ich bin doch bei dir!«, sagte sie und hielt ihn fest umschlungen, während er haltlos schluchzte und sich in panischer Angst an sie klammerte. »Ich hatte einen Albtraum«, sagte er.
Sie hätte ihn gern gefragt, worum es in dem Traum gegangen war, wagte es aber nicht. »Würdest du vielleicht gern bei mir schlafen?«, fragte sie, obwohl sie sich ein wenig seltsam dabei vorkam. Doch eine ›richtige‹ Mutter hätte wohl ebenso gehandelt.
Jack nickte, und Tara trug ihn in ihr Zimmer und legte ihn auf die andere Seite ihres riesigen Bettes. »Ich bin hier neben dir«,sagte sie und legte sich auf ihre eigene Hälfte. »Wenn du Angst hast, brauchst du nur die Hand auszustrecken!«
Jack nickte und kuschelte sich in die Kissen.
»Ich lasse die Lampe brennen«, sagte Tara und schloss die Augen. Insgeheim schwor sie sich, am folgenden Morgen mit Tadd Sweeney zu sprechen und herauszufinden, was wirklich geschehen war.
27
R ex hat sich gerade über Funk gemeldet!«, rief Tara ihrer Tan- te, die auf der Empore stand, vom Fuß der Treppe aus zu. »Er fährt jetzt los.«
Victoria befand sich in einem Zustand leichter Panik. Der Zug fuhr um zwei Uhr nachmittags in St. Williams Creek ab, und sie wollte ihn auf keinen Fall verpassen. Sorrel Windspear erwartete sie in Alice am Bahnhof, und obwohl sie ursprünglich gar nicht hatte fahren wollen, war sie jetzt doch voller Vorfreude.
Als Victoria mit ihrem kleinen Koffer in der Hand die Treppe herunterkam, bemerkte Tara besorgt ihre gerunzelte Stirn. Tara nahm ihr den Koffer ab und stellte ihn lächelnd neben die Haustür. »Du musst doch noch eine ganze Weile warten, bis er kommt, Tante Victoria.«
»Wenn alles gut geht«, murmelte Victoria missgestimmt. »Eigentlich hätte er um sechs Uhr morgens hier sein sollen.«
Tara spürte, dass sie sich wirklich Sorgen machte. »Du weißt doch, dass er Mühe hatte, die neue Achse für seinen Wagen aus Port Augusta zu bekommen. Sie ist erst gestern geliefert worden, und dafür hat er alles sehr schnell repariert. Anscheinend hat er mit den anderen Männern gestern bis weit nach Einbruch der Dunkelheit daran gearbeitet.« Das hatte Rex besonders hervorgehoben.
Victorias Stirn glättete sich. Sie wusste, dass alle in der Stadt für sie getan hatten, was sie konnten, und sie war ihnen sehr dankbar dafür. Doch das hielt sie nicht davon ab, sich wegen der Reise viel zu viele Gedanken zu
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