Der Ruf des Abendvogels Roman
tun würde, oder?«
»Oh nein! Tante Victoria hält große Stücke auf sie.« Tara riss Ethans Brief auf und überflog rasch den Inhalt. Der war nicht gerade erfreulich, doch er überraschte sie auch nicht. Ethans Freund bei der Bank hatte bestätigt, dass Tambora mit einer hohen Hypothek belastet worden war. Es lägen Papiere mit Victorias Unterschrift vor, bei denen Tara sicher war, dass Tadd die Signaturen gefälscht hatte. Die Zinsrate, die Ethan in ihrem Auftrag eingezahlt hatte, hatte die Enteignung zwar um einen Monat aufgeschoben, doch das war alles, was sie tun konnten.
Tara schüttelte verzweifelt den Kopf. Vielleicht, so überlegte sie, konnten sie das Unausweichliche durch die Wolllieferungen und die Aufnahme von Pflegekindern so lange hinausschieben, bis ein Wunder geschah.
Nachdem Tara gebadet hatte, legte sie sich hin und fiel sofort in tiefen Schlummer. Drei Stunden später wachte sie auf, weil jemand sie heftig schüttelte.
»Wachen auf, Missus!«
»Was ist los?«, fragte Tara schläfrig und dachte zuerst an die Kinder.
»Jemand spricht in der Kiste, die schnattert. Sie fragen nach Ihnen«, erklärte Nerida.
Tara eilte die Treppe hinunter in den Raum, in dem das Funkgerät stand, und meldete sich. Überrascht stellte sie fest, dass die Anruferin Lottie war.
»Wie nett, von dir zu hören, Lottie!«, sagte sie.
»Ich kann nicht lange sprechen, Tara. Für dich ist heute Nachmittag ein Telegramm von Victoria angekommen.«
»Oh, danke, dass du es mich wissen lässt. Ich rufe gleich Percy an ...«
»Nein!«, rief Lottie, »nur das nicht!«
»Warum denn nicht?«
»Weil Tadd das Telegramm abgeholt hat. Weder er noch Percy sollen erfahren, dass ich davon weiß. Tadd ist vor ein paar Stunden hier gewesen, und er war betrunken. Während er ... bei Belle war, habe ich das Telegramm aus seiner Hosentasche genommen und es heimlich gelesen. Ich weiß, dass das falsch war, aber ich hatte den Eindruck, dass er es dir nicht zeigen würde. Er war in einer furchtbaren Stimmung, als er kam.«
Tara fühlte, wie Wut in ihr aufstieg. »Was stand in dem Telegramm?«, fragte sie trotzdem beherrscht.
»Victoria schrieb, dass sie sich wegen der Pflegekinder umgehört hat und dass an einem der nächsten Tage jemand von der Behörde zu euch kommt, um das Haus zu inspizieren. Victoria kommt übermorgen am frühen Abend zurück, aber sie fürchtet, dass der Besucher in der Zwischenzeit bei euch erscheint und wollte, dass ihr vorbereitet seid. Außerdem schrieb sie noch, sie hätte deinen Namen aus allem herausgehalten, was immer das heißen mag.«
»Oh!«, stieß Tara verblüfft hervor.
»Verstehst du die Nachricht?«, wollte Lottie wissen.
»Ja, das tue ich. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast, Lottie!«
»Gern geschehen. Es tut mir Leid, dass ich so spät noch angerufen habe – aber um diese Zeit hört uns sicher keiner zu.«
»Ich bin dir sehr dankbar!« Tara dachte an all die Dinge, die in den nächsten Tagen getan werden mussten, und Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie konnte sich schon gut vorstellen, was ihre Mutter dazu sagen würde.
Tara fand ihre Mutter mit einem feuchten Waschlappen auf der Stirn auf ihrem Bett liegend. Elsa fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu.
Als Tara ihr die Situation schilderte, wurde sie sichtlich blass. »Ich kann doch nicht das ganze Haus in weniger als zwei Tagen putzen, Tara«, meinte sie. »Genau so lange habe ich gebraucht,um ein paar Räume zu säubern. Nerida hat heute nur eine Stunde gearbeitet.«
Tara zuckte mit den Schultern. »Dann tu es einfach, so gut du kannst, Mutter – vielleicht räumst du einfach nur ein bisschen auf, wischst Staub und entfernst die Spinnweben. Wir können nur hoffen, dass die Inspektoren nicht zu gründlich hinschauen. Ich kann leider nicht hier bleiben, um zu helfen, weil die Männer draußen alle Hilfe brauchen, die sie bekommen können. Wir haben nur noch einen Tag, bis wir mit der Schur beginnen müssen.«
Elsa setzte sich plötzlich auf. »Hast du das gehört, Tara?«
Tara schüttelte abwesend den Kopf. »Ich habe gar nichts gehört.«
»Ich glaube, draußen schreit jemand«, beharrte Elsa.
»Bist du sicher?« Tara trat auf den Balkon hinaus, wo sie tatsächlich etwas hörte, das wie ein heftiger Streit klang. Doch das Gebrüll schien von irgendwo hinter dem Haus zu kommen.
»Das klingt nach Ethan und Tadd«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich gehe hinunter und sehe nach, was los ist.«
Tara eilte hinüber zu Tadds
Weitere Kostenlose Bücher