Der Ruf des Abendvogels Roman
Tara«, meinte er. »Soll ich ihnen sagen, dass du ... andere Verpflichtungen hast?«
Tara fühlte, wie sie errötete. »Nein, Ethan – ich komme schon.« Sie stand auf und sah Riordan an. »Charlie und Bluey zeigen mir, wie man ein Schaf schert. Wenn die Scherer nicht kommen, werden wir es selbst tun müssen.«
»Könnt ihr noch ein Paar Hände gebrauchen?«
»Und ob – je mehr, umso besser!«
Lottie stand am Fenster und blickte hinaus, als es an der Tür klopfte. »Was willst du, Jed?«, rief sie dem Mann zu, der auf ihrer Schwelle stand.
»Mach doch auf, Lottie – das haltet ihr sowieso nicht lange durch.«
»Haben Wally Sherbourne und die anderen Männer die Schafe in Tambora geschoren?«
»Nein, und das werden sie auch nicht tun.«
»Dann werde ich auch meine Tür nicht öffnen.«
»Ihr werdet euch zu Tode hungern!«
»Das erlebst du jedenfalls nicht.«
Jed seufzte verzweifelt auf. »Lottie, komm schon – was hast du mit Victoria Milburn zu schaffen? Das ist doch nicht deine Angelegenheit!«
»Ich mache es aber zu meiner Angelegenheit. Was Victorias Nichte in Irland getan hat, geht niemanden etwas an als sie selbst. Wenn ihr Männer das zu eurer Sache macht, will ich keinen von euch hier bei mir sehen. Und jetzt geh und sag den Männern, sie brauchen nicht zu kommen, bis diese Schafe geschoren sind – und das ist mein letztes Wort!«
Belle und Maddy waren hinter Lottie getreten. Alle drei hörten Jed Hanson fluchend davongehen.»Wie lange wollen wir diesen Streik aufrechterhalten?«, fragte Belle.
»So lange, wie es nötig ist.«
»Ich glaube nicht, dass es sehr lange dauern wird«, erwiderte Belle. »Die ganze Nacht über haben Männer an mein Fenster geklopft.«
»Bei mir war es genauso«, meinte Maddy. »Ich habe kaum ein Auge zugetan.«
Lottie wurde plötzlich nachdenklich. »Mädchen, zieht eure schönsten Kleider an«, sagte sie plötzlich. »Wir gehen zu einer Party!«
Belle und Maddy wechselten einen überraschten Blick. »Und wo?«
»In Tambora. Ich glaube nicht, dass Victoria und ihre Familie etwas dagegen haben, uns für ein paar Tage bei sich aufzunehmen. Und wir könnten für eine Weile hier heraus.«
»Wie schön!«, stieß Maddy begeistert hervor. »Ich habe Ethan seit Wochen nicht gesehen, und er müsste eigentlich dort sein.«
33
D ie Männer begannen schon im Morgengrauen damit, die Lämmer von den Mutterschafen und den Böcken zu trennen. Sie hatten wenig Hoffnung, dass die Scherer auftauchen würden, und bereiteten sich darauf vor, die Schafe selbst zu scheren. Wie immer, wenn harte Arbeit bevorstand, war Tadd Sweeney verschwunden.
Nach Taras erstem, tapferen Versuch entschieden die Männer, dass sie zu zierlich war, um ein fünfzig Pfund schweres Schaf auf den Rücken zu werfen. Sie war wohl besser als Roustabout oder Gehilfin, die die Wolle von den Dielen sammelte und sie auf einen Tisch warf, um dann die Enden sauber abzuschneiden. Normalerweise tat das ein Klassierer, doch bei kleineren Aufträgen konnte es auch einer der Scherer oder ein Gehilfe tun. Victoria meinte, es sei nicht so wichtig, ob die Wolle ordnungsgemäß klassiert war, weil William Crombie kleine Läufer daraus herstellen wollte.
Jack fungierte als ›Teerjunge‹, was bedeutete, dass er alle kleinen Wunden und Schnitte, die die Schafe eventuell beim Scheren abbekamen, mit Teer einschmieren und den Holzboden fegen musste. Um Hannah eine Freude zu machen und ihr das Gefühl zu geben, sie gehöre dazu, hatte Tara ein Lamm in ihre Obhut gegeben, das mit der Flasche gefüttert werden musste. Das kranke Mutterschaf war eine leichte Beute der Dingos geworden, doch das Lamm hatte Nugget retten können.
Obwohl er das Scheren in den heißen Hütten als Schwerstarbeit empfand und sein Rücken schon bald von derungewohnten Haltung schmerzte, tat Riordan sein Bestes, um sich nützlich zu machen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er bisher im Vergleich zu den harten Männern aus dem Outback ein angenehmes und privilegiertes Leben geführt hatte. Manchmal zog es ihn mit Macht zurück nach Irland, doch er hatte sich geschworen, nicht ohne Tara dorthin zurückzukehren.
Unglücklicherweise war Ethan wegen eines Notfalls fortgerufen worden und konnte ihnen bei der Arbeit in den Hütten nicht helfen. Einem Suchtrupp war es nicht gelungen, auf der Emu-Plain-Farm, einer der größten Farmen südlich von Wombat Creek, zwei vermisste Kinder ausfindig zu machen, und Ethan war ihre einzige Hoffnung. Er war mit
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