Der Ruf des Abendvogels Roman
hinter der Absperrung sah, die schon geschoren waren. Die Armen hatten reichlich Schnitte und Kratzer abbekommen, aber insgesamt hatten die Männer für Amateure nicht schlecht gearbeitet. Victoria beobachtete ihn, sodass er sich nicht traute, einen Kommentar abzugeben, doch jetzt war es an der Zeit, ihnen zu zeigen, wie man es richtig machte.Als die Arbeit getan war und die Scherer ihre Werkzeuge niederlegten, war es zwei Uhr morgens. Victoria hatte mehrere Öllampen in die Hütten gestellt, und die Männer fanden es trotz ihrer Müdigkeit angenehmer, in der Kühle der Nacht zu arbeiten. Zwei Stunden später war die Wolle zu Ballen verschnürt, Sanja hatte den Männern etwas zu essen gebracht, und sie hatten sich erschöpft ins Arbeiterhaus zurückgezogen.
»Ich glaube, jetzt schaffen wir den Termin«, sagte Victoria zu Tara, als sie schließlich im Esszimmer bei einer Tasse Tee zusammensaßen. Es war das erste Mal, dass sie wieder optimistischer in die Zukunft sah.
»Das hoffe ich – aber ich wünschte, die Kinder würden nicht ausgerechnet heute ankommen. Ich bin so müde, dass ich trotz der Hitze vierundzwanzig Stunden schlafen könnte.«
»Ich weiß, was du meinst«, murmelte Victoria, die in ihrem Sessel beinahe eingeschlafen wäre.
Als Tara die Treppe hinaufgehen wollte, sah sie Koffer neben der Eingangstür stehen. »Sind das Sorrels?«, fragte sie ihre Tante. »Ich dachte, sie bliebe noch zwei Tage hier.«
»Die Koffer gehören Riordan. Er hat mir gesagt, dass er heute Morgen mit Rex Crawley in die Stadt fahren will, damit er den Nachmittagszug nach Adelaide noch erwischt.«
Tara erschrak. »Aber warum? Ich wusste ja, dass er irgendwann abreisen wollte, aber weshalb tut er es jetzt, und dann noch so plötzlich?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte Victoria. »Aber ich vermute, es hat irgendetwas mit dir zu tun.«
Tara klopfte leise an Riordans Tür, die nur angelehnt war, doch es kam keine Antwort. Da stieß sie die Tür ganz auf und sah seine Silhouette auf dem Balkon.
»Riordan?«, flüsterte sie, als sie ihn fast erreicht hatte.
Er wandte sich überrascht um. »Ich dachte, du würdest längst schlafen«, sagte er, und sie sah ihm an, dass ihn etwas zutiefst schmerzte. »Du musst doch völlig erschöpft sein.« Tara war nacheiner kurzen Pause noch einmal zu den Hütten hinübergegangen, um den Scherern zu helfen. Sie war so müde wie nie zuvor in ihrem Leben.
»Ich wollte gerade ins Bett gehen, als ich deine Koffer sah. Wärst du wirklich abgereist, ohne mir Lebwohl zu sagen?« Tara wusste, dass Rex gleich nach dem Frühstück mit den Scherern abfahren wollte. Riordan drehte sich um und blickte über die mondbeschienene Landschaft. In etwas mehr als einer Stunde würde es hell werden. »Ich hasse Abschiede, und ich dachte, ich könnte es nicht ertragen, dir Lebwohl zu sagen.« Er wandte sich schnell ab, weil seine Gefühle ihn zu überwältigen drohten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, Tara niemals wiederzusehen.
Tara wusste nicht, was sie sagen sollte. Seit Riordan sie gebeten hatte, ihn zu heiraten, hatte er seine Gefühle für sie nie wieder erwähnt. Tara hatte ihm bislang keine eindeutige Antwort gegeben – deshalb verstand sie nicht, warum er jetzt so plötzlich abreiste. »Warum gehst du so ... unvermittelt? Wegen der vielen Arbeit? Oder ist es die Hitze? Man braucht einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen.«
Riordan seufzte. »An dem Tag, als ich mit deiner Mutter hier ankam, habe ich gesehen, wie du Ethan Hunter geküsst hast.«
Tara errötete.
»Es war der ... leidenschaftlichste Kuss, den ich je gesehen hatte, und als ich dich küsste, hast du nicht auf dieselbe Weise geantwortet. Trotzdem habe ich im Stillen gehofft ... bis ich euch gestern während der Party zufällig wieder bei einem Kuss beobachtet habe. Seitdem weiß ich, dass du nie mit mir nach Irland kommen wirst.«
Tara sah ihn verwirrt an. »Riordan, ich ... ich habe dafür selbst keine Erklärung ...«
»Wenn du mich so küssen würdest, Tara, wäre ich der glücklichste Mann auf Erden.«
»Du willst doch nicht etwa sagen, dass Ethan irgendwelcheGefühle für mich hegt oder ich für ihn? Wir sind so verschieden, wie man nur sein kann.«
»Vielleicht besteht gerade darin der Reiz, Tara. Zwischen euch ist etwas, auch wenn du dich weigerst, es zuzugeben.«
Tara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Dass sie ihm nicht widersprach, versetzte ihm einen schmerzhaften Stich.
»Er ist ein Nomade,
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