Der Ruf des Abendvogels Roman
Promenadendeck verteilte die Besatzung die Passagiere auf die verschiedenen Rettungsboote. Menschen drängtenin Panik nach vorn, um sich selbst und ihren Lieben einen Platz zu sichern. Sie vergaßen alle Rücksicht und auch das, was während des Probealarms oft geübt worden war. Die Passagiere der ersten Klasse verlangten auch hier bevorzugte Behandlung, und Tara stellte fest, dass die Angst, mit dem Schiff zu sinken, in einigen die schlimmsten Charakterzüge zutage förderte.
Plötzlich begann die Emerald Star auf die Seite zu kippen. Der Regen hatte zwar aufgehört, doch die Planken waren glitschig. Angsterfüllte Schreie schallten über Deck, und die Passagiere rannten und schlitterten in alle Richtungen durcheinander, um ihre Freunde und Verwandten zu suchen. In der allgemeinen Panik fielen einige von ihnen über Bord.
Tara und die O’Sullivans befanden sich auf der Backbordseite des Schiffes. Das Durcheinander vor den Rettungsbooten wurden immer schlimmer, und irgendwann fand Tara sich ohne ihre Freunde in einer anderen Schlange wieder.
»Was um Himmels willen passiert da unten?« Sie musste schreien, um das Krachen und Wummern zu übertönen, das tief aus dem Inneren des Schiffes zu ihnen heraufdrang.
»Das Schiff hat seit dem Sturm Wasser gezogen«, schrie Michael zurück. »Die Besatzung meinte, es sei nichts Ernstes, aber das Feuer wird sich durch die restlichen Schotts fressen und das Problem verschlimmern. Dieses laute Krachen bedeutet, dass die Ladung verrutscht.«
Jack wandte ein: »Aber vielleicht löscht das Meerwasser ja auch den Brand, Papa!«
Michael wusste nicht, welche Vorstellung er schlimmer fand: zu ertrinken oder zu verbrennen, er wusste nur: Vor beidem musste er seine Familie unbedingt bewahren. »Du und deine Schwester, ihr werdet in einem Rettungsboot in Sicherheit gebracht«, sagte er mühsam lächelnd, bemüht die Angst zu unterdrücken, die immer mehr von ihm Besitz ergriff.
»Wir gehen nicht ohne dich und Mama!«, rief Jack.
»Hör mir zu, mein Sohn: Wenn wir können, bleiben wirzusammen – aber es kann sein, dass wir getrennt werden und uns in verschiedenen Booten wieder finden. Dann musst du auf deine Schwester Acht geben, und ich tue dasselbe mit deiner Mutter. Bitte, tu, was ich dir sage! Du musst stark sein – und falls doch etwas passiert, versprich mir, dass du immer auf Hannah aufpasst!«
Michael war sich bewusst, dass er von seinem zehnjährigen Sohn viel verlangte, aber er hatte keine andere Wahl. Jack blickte zu Hannah hinüber, deren blonde Locken der Wind zerzauste und deren Gesicht nass von Tränen war. Seine eigenen Züge nahmen einen so ernsten Ausdruck an, dass es seinem Vater fast das Herz brach. Dann legte er einen Arm um seine Schwester und nickte stumm.
Die Besatzung gab Schwimmwesten an diejenigen aus, die vor den Booten warteten, und erteilte ihnen hastig letzte Instruktionen. Die Westen brachten vielen Passagieren erst richtig zu Bewusstsein, wie groß die Gefahr wirklich war, sich bald im Wasser wieder zu finden, und Tara spürte eine nie gekannte Panik in sich aufsteigen, die ihr den Atem nahm. Wie die meisten an Bord konnte sie nicht schwimmen und hatte große Angst vor tiefem Wasser. Sie riskierte einen verstohlenen Blick über die Reling: Die Wellen schienen so weit entfernt, das Meer so unendlich und dunkel, absolut furchteinflößend. Der Gedanke an Haie ließ sie beinahe in Ohnmacht fallen, und sie kämpfte verzweifelt gegen das Bedürfnis an, laut zu schreien. Welche böse Macht des Schicksals hatte sie hierher geführt?
Tara spürte, wie ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Sie wandte sich zitternd um und fand sich plötzlich einer älteren Frau gegenüber, die sie aus tränenfeuchten blauen Augen mitfühlend musterte. Die Dame wirkte ruhig, und ihre Haltung angesichts der drohenden Katastrophe ließ Tara sogleich ihre Panik vergessen. Ihr Gegenüber trug ein dünnes Nachthemd, und einzelne Strähnen ihrer weißen Haare wehten wie leichte Federn im Wind. Sie hielt eine Fotografie an sich gepresst, als sei es ihr kostbarster Besitz auf Erden. Tara bemerkte die raue Haut ihrerHände, ihre wunderschönen Ringe, ihre noble Ausstrahlung ... Sicher war sie in der ersten Klasse gereist, denn Tara hatte sie unter den Passagieren noch nie bemerkt. Doch am erstaunlichsten schien der Jüngeren ihre Ruhe angesichts des Durcheinanders um sie herum. Sie schien dem fast sicheren Tod still und gefasst entgegenzusehen.
Tara blickte in ihre weisen
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