Der Ruf des Abendvogels Roman
dass die meisten, wenn nicht sogar alle Einwohner von Marree einen Mann regelrecht verehrten,der Ethan Hunter hieß. Wenn alles stimmte, was über ihn erzählt wurde, war er im australischen Hinterland fast so etwas wie eine lebende Legende – ein Kamelreiter afghanisch-englischer Abstammung, der das Landesinnere bis hin zu entlegenen Orten bereiste, zu denen sich kein anderer traute. Sie hörte Geschichten über seine unglaubliche Tapferkeit, seine großen Erfolge bei der Jagd und sein nahezu unerschöpfliches Wissen über die Natur. Jeder in der Stadt wusste eine Geschichte zu erzählen über den Mann, der furchtlos in das unwirtliche, unberührte Land hinauszog und sich dort ein gutes Leben und ein anständiges Einkommen erarbeitet hatte.
Tara sprach gerade mit Sorrel und einer anderen Reisenden aus dem Zug darüber, wie sie mit den Kindern von Wombat Creek nach Tambora gelangen sollte, als der Wirt im ›Great Northern Hotel‹ anfing, in den höchsten Tönen Ethan Hunters Lob zu singen.
»Er kennt das Innere Australiens besser als jeder andere Mensch«, erklärte der Wirt. »Und er würde sogar im Sandsturm blind seinen Weg finden. Er wäre genau der Richtige, um Sie und die Kinder nach Tambora zu bringen!«
Tara begann, Hoffnung zu schöpfen. »Wo kann ich ihn finden?«, fragte sie.
»Ach, er kommt und geht. Niemand weiß genau, wann und wo er als Nächstes auftaucht, aber er ist meistens genau dort, wo er gebraucht wird.«
»Das hilft mir leider nicht viel weiter – ich muss wissen, wie und wann ich ihn finden kann!«
»Hier richtete sich niemand nach einem bestimmten Zeitplan«, erwiderte der Wirt. »Dafür sind die Elemente viel zu unberechenbar. Aber Sie können Ihr Leben drauf wetten, dass er irgendwann in der Stadt auftaucht – wenn ich mich nicht irre, bringt er im Augenblick gerade die verderblichen Waren aus dem Zug nach Alice.«
Tara fiel wieder ein, dass Jack ihr von einer Kamelkarawaneerzählt hatte. Sie hatte ihm nicht recht geglaubt, und das tat ihr plötzlich sehr Leid. Jedenfalls begann sie langsam zu begreifen, dass Pläne im Outback wirklich absolut keine Rolle spielten. Eine seltsame Art, zu leben!
»Ich würde mit meinem Leben hier draußen auf gar nichts wetten, schon gar nicht auf ein Phantom«, murmelte sie.
»Was ist ein Phantom?«, wollte der Wirt wissen.
Tara verdrehte entnervt die Augen. »Etwas, das man nicht fassen kann ... ach, schon gut. Haben Sie denn nicht irgendeine Ahnung, wann er wiederkommt? Noch in dieser Woche, oder erst in der nächsten?« Der Gedanke daran, so lange in Marree oder Wombat Creek zu bleiben, war ihr äußerst unangenehm, doch was blieb ihr anderes übrig?
»Er ist wie ein Wind«, schaltete sich ein verschwitzter Bahnarbeiter vom anderen Ende der Theke her ein. »Irgendwann kommt er plötzlich wieder hereingefegt.«
Tara schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Warum nicht gleich ein Geist?«
Der Wirt und der Bahnarbeiter sahen sie mit einem seltsamen Blick an, so als habe sie durch Zufall an etwas gerührt. Ihre eigenartigen Blicke ließen Unsicherheit darüber in ihr aufsteigen, ob sie wirklich das Bedürfnis verspürte, Ethan Hunter kennen zu lernen. Ihr Problem war jedoch noch nicht gelöst. Sie musste irgendwie von Wombat Creek nach Tambora gelangen, eine Strecke von dreißig Meilen durch trockenes Buschland. Und wie es schien, war Ethan Hunter genau der Mann, der sie dorthin bringen konnte. Aber wie sollte sie ihn finden? Obwohl er für diese Aufgabe mehr als geeignet zu sein schien, spürte sie auch, dass es über ihn noch mehr zu erfahren gab, und ihr Gefühl sagte ihr, dass ihr nicht alles daran gefallen würde.
Am folgenden Morgen rollte zur großen Erleichterung der Passagiere der Zug in den Bahnhof von Marree. Sie stiegen ein, und einige der Einwohner, unter ihnen auch Aborigines, winkten ihnen zum Abschied zu. Auch Mohomet war da und gab beidenFrauen ein sorgfältig eingepacktes Geschenk. Tara sah, dass ihm der Abschied von Sorrel schwer fiel, und die Sachen, die er trug, waren farblich etwas zurückhaltender als gewöhnlich, wie sie lächelnd bemerkte.
Im Lauf des Vormittags fuhren sie den Oodnadatta-Track entlang am ›Lake Eyre South‹ vorüber. Er schimmerte wie eine riesige Wasserfläche, doch in Wirklichkeit war der so genannte See nichts als eine trockene Salzfläche und das Wasser nur eine Illusion. Tara verzog das Gesicht, als sie an ihren neu erworbenen Badeanzug dachte und daran, dass sie gehofft
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