Der Ruf des Abendvogels Roman
eindeutig im Nachteil fühlte, stand sie auf, stellte jedoch fest, dass sie immer noch zu ihm aufblicken musste, da er mindestens dreißig Zentimeter größer war als sie. Ihr erster Eindruck war der eines kräftigen Mannes, der sie mit einem eindringlichen Blick aus dunklen Augen musterte.
»Sie müssen das Phantom sein«, sagte sie ohne nachzudenken;sein direkter Blick verwirrte sie. Seine Haut war tief braun, und sein Bart seit mehreren Tagen nicht mehr geschnitten. Seine dunklen Haare wurden an den Schläfen bereits grau, ein Zeichen dafür, dass er trotz seiner blendenden Form kein junger Mann mehr war. Er trug eine dünne Lederhose, die an den Hüften so eng anlag, dass sich die kräftigen Muskeln an seinen Oberschenkeln deutlich abzeichneten. Seine Stiefel waren alt und staubig; sein Hemd, das wie eine zweite Haut an seinem muskulösen Brustkorb anlag, stand zwei Knöpfe weit offen und gab den Blick auf dichte, dunkle Haare frei.
»Das Phantom?«, fragte er mit skeptisch gerunzelter Stirn.
Tara riss ihren Blick von seiner Brust los und erklärte ungeduldig: »Ethan Hunter!«
»Das ist richtig. Woher haben Sie das gewusst?« Noch immer starrte er sie misstrauisch an.
Tara fühlte sich hin und her gerissen. Eigentlich hätte sie hoch erfreut darüber sein müssen, so unverhofft auf Ethan Hunter zu stoßen – oder doch wenigstens erleichtert. Doch er schien ihr furchtbar unfreundlich, unhöflich und dazu noch schlechter Laune zu sein. Außerdem schien er nicht das geringste Verständnis dafür aufzubringen, dass jemand diese Umgebung nicht eben einladend fand. Jetzt wartete er ungeduldig auf ihre Erklärung.
»Sie entsprechen genau der Beschreibung der ›lebenden Legende‹, über die ich so viel gehört habe«, sagte sie, verärgert darüber, dass er sie behandelte wie ein Schuldmädchen.
Sein Mund verzog sich in der Andeutung eines Lächelns. Tara fand, dass es eher selbstzufrieden als amüsiert wirkte, und beschloss, das zu ändern.
»Anscheinend haben die Leute in Marree aber vergessen, mir zu sagen, dass Sie außerdem ein mürrischer, streitsüchtiger, rücksichtsloser Mann sind«, fügte sie hinzu.
Sein Mund wurde schmal. Tara wurde langsam nervös. Dann sagte er: »Vielleicht hätte man mich vor einer verwöhnten, tollkühnen Irin warnen sollen, die rücksichtslos zwei unschuldigeKinder durch die Wüste zerrt, ohne einen einzigen Gedanken an deren Sicherheit oder ihre eigene. Wenn einer von uns gewarnt gewesen wäre, hätten wir es vielleicht fertig gebracht, uns erfolgreich aus dem Weg zu gehen.«
Verärgert fühlte Tara, wie ihr wieder Tränen in die Augen stiegen, und wandte sich ab. Er sollte nicht sehen, wie sehr er sie getroffen hatte. Wäre sie nicht voller Enttäuschung über das Leben im Allgemeinen und Wombat Creek im Besonderen gewesen, hätte sie ihm vielleicht eine passende Antwort gegeben. Doch im Moment fühlte sie sich zu niedergeschlagen und kraftlos.
Ethan, dem es Leid tat, vor den Kindern die Beherrschung verloren zu haben, und der es nicht ertragen konnte, Frauen weinen zu sehen, versuchte es jetzt auf eine etwas sanftere Art. Wieder legte er den Kopf leicht schief, während er Taras Züge mit nahezu aufreibender Gründlichkeit studierte. »Was tun Sie hier eigentlich in Wombat Creek?«
Tara hätte ihm gern noch einmal gesagt, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, doch ihr war bewusst, dass sie seine Hilfe brauchte, um nach Tambora zu gelangen. »Meine Tante lebt irgendwo hier draußen«, sagte sie deshalb und bekam dann einen Schluckauf, der sie erst recht verlegen machte.
Ethan hätte beinahe gelächelt – sie bot wirklich einen Mitleid erregenden Anblick. Obwohl er ärgerlich auf sie war, rührte ihre Hilflosigkeit die weichere Seite seines Herzens. Er hatte niemals einem Lebewesen in Not den Rücken kehren können.
»Mir fällt eigentlich niemand ein, der streitsüchtig genug wäre, um sich mit Ihnen einzulassen«, sagte er leicht amüsiert. »Obwohl, warten Sie: Da wäre die alte Sadie Jennings, die angriffslustig werden kann wie eine braune Schlange, wenn man sie reizt. Dann ist da Nonie Jacob, die bei Vollmond etwas seltsam wird, aber ich glaube nicht, dass sie irgendwelche Verwandte hat ...«
»Wenn Sie die Güte hätten, damit aufzuhören«, unterbrach ihn Tara. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass meine sanfte Tante etwas an Leuten wie Ihnen finden würde!«
»Da bin ich mir aber ganz sicher – und zwar eine ganze Menge!« Es
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