Der Ruf des Abendvogels Roman
Sonne und die Hitze ihr den Verstand vernebelten und ihr Dinge vorgaukelten, die nicht da waren. Das Gesicht in den Händen verborgen, murmelte sie: »Wenn ich jetzt die Augen wieder zumache, verschwindet vielleicht dieser schreckliche Ort, und alles ist wieder gut.« Ihr ganzes Selbstmitleid brach sich plötzlich Bahn.
Das Trugbild legte den Kopf schief und blickte aus schmalen Augen auf sie hinunter. »Sie sehen ganz gesund aus, und die Kinder auch – aber das wird sich sehr schnell ändern, wenn Sie weiter hier in der Sonne sitzen und sich selbst bemitleiden. Wir haben mindestens fünfundvierzig Grad im Schatten. Hat man Sie aus dem Zug geworfen, weil Sie nicht bezahlt hatten?«
Tara fuhr sofort empört auf. »Natürlich nicht!«
»Warum sitzen Sie dann hier wie ein Kind weinend im Staub? Sie und die Kinder werden noch einen Hitzschlag bekommen!«
Sogar in ihrem aufgelösten Zustand bemerkte sie, dass in seiner Stimme nicht eine Spur Sympathie mitschwang.
»Ich ... Ich bin ...«
»Ja?«, fragte der Fremde ungeduldig nach.
»Das würden Sie sowieso nicht verstehen«, murmelte sie ausweichend und versuchte, ihn anzusehen, konnte jedoch ihre Augen wegen der Helligkeit nur ganz kurz aufmachen. »Wer sind Sie überhaupt? Und was geht es Sie an, ob mir zum Weinen zumute ist oder ob ich in diesem gottverdammten Nest einen Hitzschlag bekomme?« Sie deutete mit einer kurzen Handbewegung auf die sonnenverbrannte Ödnis ringsum.
»Sollte Ihnen in diesem gottverdammten Nest etwas zustoßen, wäre ich der Erste – und wahrscheinlich auch der Einzige –, der Ihnen zu Hilfe kommen würde. Ich verbringe die Hälfte meiner Zeit damit, Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu retten. Und ehrlich gesagt, hätte ich Besseres zu tun!«
Tara fühlte, wie sie zornig wurde. Wer zum Teufel glaubte dieser Mensch, zu sein? Sie schuldete ihm keine Erklärung! »Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten – ich brauche Ihre Hilfe nicht!«
»Aber Ihre Kinder vielleicht schon. Sie sind so in ihrem Selbstmitleid versunken, dass Sie gar nicht an die beiden denken. Ich schlage vor, Sie gehen so schnell wie möglich hinüber in den Schatten des Hotels. Es ist unverantwortlich von Ihnen, sie mit ihrer empfindlichen Haut hier draußen in der Sonne stehen zu lassen!«
Tara tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab, putzte sich die Nase und versuchte dann noch einmal, den Mann anzusehen. Die Kinder trugen ihre Hüte, doch das schien dem Fremden offensichtlich nicht zu genügen, der so ungebeten in ihr Leben spaziert war.
Plötzlich hörte sie ein tiefes, gutturales Gebrüll und fuhr erschrocken zusammen. Hannah schrie auf und warf sich in Taras Arme, wobei sie sie fast umstieß.
»Ist schon in Ordnung, Kleine«, meinte der Mann beruhigend. »Hannibal tut dir nichts – er macht nur gern laute Geräusche. Das ist seine Art, sich zu beschweren.« Er stieg ab und kam auf sie zu.
Tara legte eine Hand über die Augen und sah, dass Hannibal ein riesiges Kamel war. Sabber troff von seinen weichen Lippen, und große, verfilzte Fellbüschel hingen an seinem Körper herunter. Er war das hässlichste Geschöpf, das sie jemals gesehen hatte, und der Gestank, der von ihm ausging, wurde durch die Hitze nur noch schlimmer.
»Bringen Sie dieses schreckliche Tier hier weg«, sagte Tara und zog Hannah beschützend an sich. »Sehen Sie denn nicht, dass es den Kindern Angst macht?«
Noch immer die Augen mit der Hand gegen die Sonne beschirmend, sah sie zu dem Mann auf, der vor ihr stand. Er starrte sie an, als habe sie soeben seine Mutter beleidigt.
»Hannibal ist ein wertvolles Tier, Madam, und ich glaube, niemand würde mir darin widersprechen, dass er eine freundlichere Art hat als Sie.«
Tara stieß empört den Atem aus. »Vergleichen Sie mich etwa mit dieser ... dieser Kreatur?«
»Ja«, erwiderte der Fremde schlicht. »Und im Moment geht der Vergleich zu seinen Gunsten aus.«
Tara war außer sich vor Zorn. »Er sieht aus wie eine alte Hundedecke.« Noch immer blinzelnd sah sie den Mann an, sah seinen schweißgetränkten, federgeschmückten Hut, die verschwitzte Kleidung – und plötzlich dämmerte ihr, wer hier vor ihr stand: Ethan Hunter, die lebende Legende! All die Geschichten, die sie in Marree über ihn gehört hatte, fielen ihr wieder ein. Verächtlich dachte sie, dass die Menschen im Outback wirklich dringend Helden brauchen mussten, wenn dieser Mann alles war, womit sie aufwarten konnten.
Da sie sich auf dem Boden
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