Der Ruf des Abendvogels Roman
Gegenteil sehr recht, wenn es bei einer flüchtigen Bekanntschaft bliebe. Meinetwegen müsste auch das nicht sein, es ist reine Rücksicht auf Victoria.«
Tara war ehrlich verblüfft. Er war wirklich der egoistischste, arroganteste Mensch, dem sie je begegnet war. Sie hätte ihm zu gerne ins Gesicht geschlagen, doch sie unterdrückte diesen Wunsch. Wenn es doch nur noch irgendjemand anderen geben würde, der sie zur Farm hätte begleiten können! Aber es gab nun einmal niemanden. Sie musste also liebenswürdig sein und war dabei wieder einmal auf ihre schauspielerischen Qualitäten angewiesen.
Verzweifelt sah sie, dass er sich wieder umwandte. Mühsam schluckte sie Stolz und Wut hinunter und murmelte: »Bitte entschuldigen Sie, ich war ein wenig ... barsch. Ich hatte einen ziemlich anstrengenden Tag ...«
Langsam drehte er sich um, und seine dunklen Augen wurden schmal, als er sie ansah. Er erkannte sofort, dass ihre Entschuldigung nicht ehrlich gemeint war. »Sie wollen, dass ich Sie zur Farm hinausbringe, nicht wahr?« Er war durchaus dazu bereit, wollte jedoch sehen, ob sie sich nicht wenigstens auf ein Mindestmaß an Höflichkeit besann.
»Nein«, gab sie rasch zurück.
Ethan sah sie voller Zweifel an, wobei er den Kopf wieder schief legte. Seine ausgeprägten Züge verhärteten sich. Tara fühlte, dass es nicht klug gewesen wäre, ihn noch mehr zu verärgern, obwohl ihr gerade das große Befriedigung verschafft hätte. Doch unter seinem prüfenden Blick war es ihr unmöglich, zu lügen. »Also ... doch, schon.«
»Warum sagen Sie das nicht gleich, anstatt so zu tun, als täte Ihnen Ihr unverschämtes Benehmen Leid?«
» Mein unverschämtes Benehmen?!« Tara entschied, dass es unmöglich war, nett zu ihm zu sein. »Sind Sie immer so ... gehässig?«
»Nur wenn jemand versucht, mich zum Narren zu halten«, gab er zurück.
»Nur damit Sie es wissen – ich brauche Sie nicht. Den Weg nach Tambora finde ich auch allein. Wie weit ist es eigentlich?«
»Fast dreißig Meilen. Aber ich bezweifle sogar, dass Sie allein den Weg von hier zum Hotel finden würden, deshalb bringe ich Sie nach Tambora. Bevor Sie mir danken, seien Sie versichert, dass ich es nur der Kinder wegen tue und weil ich Ihre Tante sehr schätze.«
»Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen zu danken, aber meine Tante wird Ihnen sicher dankbar sein.« Tara war ernsthaft versucht, sein Angebot abzulehnen, aber sie wusste, dass sie den Weg allein nicht finden würde, und sie durfte nicht riskieren, sich mit den Kindern zu verirren. Nur deshalb willigte sie ein – und wenn sie einmal in Tambora angekommen waren, hoffte sie, Ethan Hunter niemals wiederzusehen.
Dieser wandte sich ab und überlegte, auf welche Weise er sie am besten zur Farm bringen konnte. »Können Sie reiten?«
»Natürlich.«
Sie sah die Erleichterung auf seinen Zügen und fuhr fort: »Ich reite jedes Pferd, das Sie haben.« Garvie hatte sie gelehrt, wie die Zigeuner zu reiten, und sie war stolz auf ihr Können. Wenigstens etwas, das sie beherrschte und das ihr hier nützlich sein konnte!
»Pferd?« Ethan gab ein Geräusch von sich, das nach unterdrücktem Gelächter klang. Er spürte die schüchternen Blicke der Kinder auf sich gerichtet. »Ich ... ein Pferd habe ich leider nicht.«
»Aber irgendjemand in diesem gottverdammten ...« Sie hielt inne und holte tief Luft, denn auch ihr fielen auf einmal die Kinder wieder ein. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Irgendjemand in dieser ... Stadt wird doch ein Pferd besitzen!«
»In Wombat Creek braucht niemand ein Pferd«, erwiderte Ethan. »Erstens läuft die Bahnlinie praktisch an den Türschwellen entlang, und außerdem gibt es, wie Sie sehen, nicht allzu viel Futter hier.«
Tara erschrak. »Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich ein Kamel reite, oder?«
»Sie haben die Wahl: ein Kamel reiten oder laufen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie auch nur zwei Meilen zu Fuß gehen, ganz zu schweigen von dreißig.«
Tara hörte in seinem Ton nicht das mindeste Verständnis für ihre Lage heraus. Sie begann zu glauben, dass er absolut herzlos war. Wenn sie seine Hilfe nur nicht so nötig gebraucht hätte ...
Sie sah Hannibal an, ein riesiges, sandfarbenes Buckeltier, dass sogar kniend größer war als sie. Aus seinem Maul troff immer noch schleimiger Speichel, während er auf etwas Unsichtbarem herumkaute. Er sah sie aus großen braunen Augen an, die von Wimpern beschattet wurden, auf die jede Frau neidisch sein musste. Ein
Weitere Kostenlose Bücher