Der Ruf des Abendvogels Roman
regen Sie sich nur nicht gleich auf«, erwiderte Ferris beruhigend. »Tadd hat sich zwar etwas ungenau ausgedrückt, aber ich glaube nicht, dass es so ernst ist. Im Büro steht ein Funkgerät. Warum rufen Sie sie nicht einfach an? Das wäre doch eine schöne Überraschung!«
Tara erschrak. »Nein, ... vielen Dank. Ich überrasche sie lieber persönlich.« Sie wollte unter vier Augen mit ihrer Tante sprechen und ihr erzählen, was sie in den vergangenen elf Jahren getan hatte. Sie musste ihr sagen, wie sie wirklich zu den Zigeunern gekommen war und warum sie die Verantwortung für die Kinder übernommen hatte.
Ethan kam in einem frischen Hemd und einer sauberen Hose zurück und duftete nach Seife. Seine Haare waren noch feucht, seine Wangen glatt rasiert. Tara fielen seine scharf geschnittenen Züge und der schön geformte Mund auf, und sie fragte sich, ob er jemals verheiratet gewesen war; doch danach zu fragen traute sie sich nicht.
»Ist Charity zu ihren Leuten gegangen?«, fragte er Ferris. »Ich habe sie nirgends gesehen, und normalerweise besteht sie darauf, mir den Rücken zu schrubben.
»Sie ist vor ein paar Wochen in die Simpson-Wüste gegangen. Ich erwarte sie jeden Tag zurück, und wenn sie kommt, ist es keinen Augenblick zu früh – sie stellt mir sonst immer die Fallen auf, und außerdem wartet ein wahrer Berg Wäsche auf sie.«
Tara fragte sich, wer diese Charity sein mochte – seine Dienerin oder eine überarbeitete Angestellte. Ethan bemerkte ihre Verwirrung und sah sich genötigt, eine Erklärung abzugeben. »Ferris ist mit einem Aborigines-Mädchen verheiratet«, erklärte er.
»Verheiratet?!« Der Wirt hatte so von seiner Frau gesprochen?Tara fühlte sogleich Mitleid mit dem armen Mädchen in sich aufsteigen, das wie eine Sklavin behandelt wurde. Hier im Busch schien wirklich vieles anders zu sein – wenn von dieser Charity sogar erwartete wurde, dass sie den Besuchern den Rücken schrubbte!
»Sie geht alle paar Monate auf Wanderschaft«, erklärte Ethan.
»Wanderschaft?« Tara war verwirrt.
»Die Aborigines sind Wanderer – Nomaden«, meinte Ferris. »Wenn es sie überkommt, verschwinden sie einfach.
»Oh ...« Wie die Zigeuner, dachte Tara. Vielleicht dachten die Menschen im australischen Outback doch großzügiger über Zigeuner als die Stadtbewohner. »Charity ist ein sehr ungewöhnlicher Name«, stellte sie fest, und hätte beinahe ›komisch‹ gesagt.
»Es ist auch nicht der Name, den ihr Stamm ihr gegeben hat. Den kann ich nicht aussprechen. Charity bedeutet Wohltätigkeit, und ich habe sie so genannt, weil ich es sehr wohltätig von ihr fand, dass sie einen alten Bas...« Er verstummte jäh, doch Tara wusste, was er hatte sagen wollen, und unterdrückte ein Lächeln. Dann warf sie einen viel sagenden Blick zu Hannah hinüber, die in kleinen Schlucken ihr Wasser trank, um Ferris daran zu erinnern, dass ein Kind anwesend war.
Ferris’ Blick folgte dem ihren, und er biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. »Dass sie einen so alten und hässlichen Menschen wie mich geheiratet hat«, vollendete er seinen Satz und zwinkerte Hannah zu, die scheu zurücklächelte.
»Ich hoffe sehr, dass sie das Baby bekommt, während sie bei ihrem Stamm ist.«
»Feigling!«, sagte Ethan.
»Ich wüsste doch gar nicht, was ich tun sollte, wenn bei ihr plötzlich die Wehen einsetzten«, verteidigte sich Ferris. Sein aufgedunsenes, unrasiertes Gesicht wurde bei diesem Gedanken aschfahl. »Was weiß ich schon darüber, wie man ein Kind auf die Welt bringt?«
»Das ist doch keine große Sache«, meinte Ethan verächtlich,und seine Arroganz ließ in Tara schon wieder die Wut aufsteigen.
»Ich habe schon einmal gesehen, wie eine Hündin ihre Jungen bekam – wahrscheinlich ist es so ähnlich«, erklärte Ferris.
Tara konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen.
»Und ich habe schon unzählige Male den Kamelstuten beim Kalben geholfen«, erklärte Ethan, als sei das genau dasselbe.
»Das ist etwas ganz anderes, Mr. Hunter«, unterbrach ihn Tara, außer sich vor Empörung.
Ethan und Ferris wechselten einen Blick und lachten herzlich. »Warum verwandeln sich Frauen nur immer gleich in bissige Krokodile, wenn Männer über Geburten reden?«, fragte Ferris.
Tara erkannte, dass die beiden sie auf den Arm genommen hatten – und sie war gründlich darauf hereingefallen. »Wenn die Männer die Kinder bekommen müssten, würden die Bevölkerungszahlen sofort dramatisch zurückgehen«, wandte sie sich
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