Der Ruf des Abendvogels Roman
bin sicher, sie freut sich über meinen Besuch.«
Die Männer wechselten einen verblüfften Blick. »An Besuchern fehlt es Lottie nun wirklich nicht«, erklärte Percy hastig.
Bevor die beiden noch etwas sagen konnten, eilte Tara hinaus ins Freie.
Jack war noch immer bei Ethan und half ihm, die Kamele zu füttern und zu bürsten. Sie fragte sich, warum Percy ihn nicht gesehen hatte.
»Du solltest bald ins Bett gehen, Jack«, meinte sie. »Wir haben morgen einen harten Tag.«
»Ich bin aber nicht müde«, erwiderte er trotzig.
»Wir sind hier in einer oder zwei Minuten fertig«, sagte Ethan. »Jack war mir eine große Hilfe.«
Tara sah, dass der Junge mit stolzem Lächeln zu ihm aufblickte. Er liebte die Arbeit mit den Kamelen und hatte großen Respekt vor Ethan Hunter.
»Welches ist Lotties Haus?«, erkundigte sich Tara bei Ethan.
Der Sonnenuntergange färbte den Himmel in einem wundervollen Rot, und Tara konnte den Blick nicht davon abwenden. Es war ein atemberaubender Anblick, der die Umgebung der Stadt allerdings noch trostloser wirken ließ. Ein paar hundert Meter entfernt in Richtung Nordwesten sah Tara die Umrisse von drei Häusern, die sich aus dem sandigen Boden erhoben. Das einzeln stehende Haus ganz in der Nähe des Hotels musste Rex Crawley gehören.
Da sie sich umgesehen hatte, war Tara der erstaunte Ausdruck auf Ethans Gesicht bis zu diesem Augenblick völlig entgangen. »Lottie wohnt in dem von hier aus gesehen letzten Haus«, erklärte er. »Warum wollen Sie das wissen?«
Das Gebäude wirkte größer als die anderen in der Stadt, und sogar aus dieser Entfernung sah man, dass es nicht ganz so reparaturbedürftig war.
»Ich möchte ihr einen kleinen Besuch abstatten. Es wäre sicher nett, eine Freundin in Wombat Creek zu haben, und sie muss sich doch einsam fühlen, wenn sie ganz allein lebt.«
Ethans Augen weiteten sich, und er unterdrückte ein Lächeln. »Lottie – Charlotte Preston lebt nicht allein – sie teilt sich das Haus mit Madeline und Corabella.«
»Hat Percy vielleicht das gemeint, als er sagte, Lottie fehle es nicht an Gesellschaft? Sind Madeline und Corabella ihre Kinder, oder sonst irgendwie mit ihr verwandt?«
Ethan schwieg einen Moment, dann sagte er: »Nein, weder noch. Aber ich bin nicht sicher, ob Sie wirklich dorthin gehen sollten, Tara.«
»Aber warum denn nicht? Sie sind doch sicher nett, oder?«
»Ja, sehr nett sogar. Aber ...«
»Da gibt es kein Aber, Mr. Hunter. Ich fange langsam an, dieMänner in dieser Stadt seltsam zu finden. Da wohnt nicht nur eine, sondern es leben gleich drei Frauen in einem Haus nur einen Steinwurf vom Hotel entfernt, aber keiner von Ihnen scheint auch nur das Geringste mit ihnen zu tun haben zu wollen.«
Ethan schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Nein, so ist es nicht. Die Männer ... gehen schon hin, aber ...«
»An dem Käfig mit den Hühnern hing eine Karte, auf der C. Preston stand. Ich nehme ihn mit hinüber, wenn es Ihnen recht ist«, erklärte Tara forsch. »Percy hat sich nicht die Mühe gemacht, und ich bin sicher, die Tiere haben genug davon, in diesem Ding eingesperrt zu sein.« Bevor Ethan noch ein Wort sagen konnte, war Tara fort.
Er beobachtete, wie sie den Käfig von der Schwelle des Ladens nahm und sich auf den Weg zu Lotties Haus machte. Er hatte Charlotte Preston immer gemocht, denn sie war offen, ehrlich, stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden und war dazu eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau. Lottie war vielen der Frauen, die aus dem einen oder anderen Grund ohne Geld und Perspektiven im ›toten Herzen des roten Kontinents‹ landeten, eine Freundin gewesen, aber sie selbst hatte in der großen Gemeinschaft des Outback noch keine wirklich enge Freundin gefunden.
Ethan wusste nicht recht, was er von Tara halten sollte. Sie sprach aus, was sie dachte, ohne etwas zurückzuhalten, und hatte als Witwe und Mutter im Leben sicher zu kämpfen. Sie war mit Sicherheit eine ungewöhnliche Frau, trotzdem war er sehr gespannt, wie sie auf Charlotte Preston reagieren würde.
9
T ara hatte gedacht, Charlotte Preston sei eine unverheiratete Frau. Doch als sie sich dem Haus jetzt näherte, war sie sich dessen plötzlich nicht mehr so sicher. Es wirkte nicht nur sehr gepflegt, sondern befand sich auch in einem viel besseren Zustand als die beiden Häuschen, an denen sie auf dem Weg vorübergekommen war und die den Goldsuchern gehören mussten, von denen Ethan gesprochen hatte. Auf dem Dach sah sie keine
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