Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
vergessen, wie groß er war. »Danke«, sagte er von Herzen und runzelte in ehrlicher Verwunderung die Stirn. Er verharrte in gewisser Entfernung ganz still vor mir, vielleicht um mir zu zeigen, dass wir nun wirklich nicht miteinander ringen mussten wie beim letzten Mal.
»Klar, ich meine, ich würde dich doch nicht versetzen.« Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, und lächelte vorsichtig. Ich war noch immer auf der Hut. In seinen Augen suchte ich nun nach diesem gequälten Blick, nach irgendeinem Hinweis darauf, dass es wirklich er war.
»Na, willkommen.« Er deutete auf die Baustelle um uns herum. »Wahrscheinlich könnte man das wohl mein zweites Zuhause nennen.«
Ich sah mich um und nickte. »Sie haben uns ja erzählt, dass die Villa verwunschen ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass du derjenige bist, der hier herumspukt.« Er stieß ein entspanntes Lachen aus. »Das war auch nicht immer ich. Ich treibe mich erst seit etwa einem Monat hier herum, seit deiner Ankunft. Das ist so eine Art Zwischenstopp für fehlgeleitete Seelen wie meine. Ich habe es auch mit anderen Portalen versucht, aber dieses hier ist wohl das einzige, das mir offensteht.« Jetzt hatte ich so viele Fragen, befürchtete aber, sie nicht mit fester Stimme vorbringen zu können, also ließ ich erst einmal ihn reden. »Allerdings habe ich die anderen weggeschickt. Weißt du, ich spiele in dieser Welt immer noch eine tragende Rolle.« Seine Stimme wurde jetzt schwerer, und mir war schon klar, von welcher Welt er da sprach. »Auf Gedeih und Verderb.«
»Wir haben bestimmt so einiges zu besprechen.«
»Ja.« Er lächelte traurig und schüttelte den Kopf, während er einen Moment den Blick abwandte. »Das denke ich auch.« Dann sah er mich wieder an, schaute direkt in mich hinein, und seine Augen funkelten, als wollte er mir am liebsten alles auf einmal sagen und wüsste gar nicht, wo er anfangen sollte. »Komm her«, bat er und bedeutete mir mit einer Geste, ihm zur Treppe zu folgen.
»Wie hast du das eigentlich … also, das mit den Lichtern?« Ich deutete in Richtung Fenster.
»Ach, weißt du …«, murmelte er verlegen. Dann streckte er die Hand aus und starrte sie intensiv an, bis über seinen Fingerspitzen wie bei Kerzen Flammen flackerten. Genauso rasch löschte er sie auch wieder, indem er die Hand zur Faust ballte.
»Oh, klar.«
Er stieg die Treppe zur Hälfte hinauf, setzte sich dann und winkte mich heran. Von draußen fiel ein Lichtstrahl auf die Stufen, so dass man dort in einem hellen Rechteck etwas sehen konnte. »Ist das okay?«, fragte Lucian. Ich nickte. »Ich muss dir so viel erzählen, Haven.« Er atmete geräuschvoll aus, als ob ihm dieser Augenblick eigentlich zu viel wurde. Dann sprach er in die Luft vor uns. »Und das alles darf ich dir eigentlich gar nicht verraten, deshalb ist es für dich noch viel wichtiger.«
In Gedanken ging ich nun alle Erinnerungen durch, die ich an Lucian hatte. Ja, es handelte sich um eine mattere, gedämpftere Ausgabe von ihm, aber wenn ich einzig diese Version von ihm kennengelernt hätte, würde ich ihn trotzdem für absolut perfekt halten. Und dann schlich sich eine ganz neue Sorge bei mir ein: Wie sah ich wohl in seinen Augen aus? Hielt ich dem Vergleich mit seinen Erinnerungen an mich stand? Ich hatte das Gefühl, dass ich mich seit letztem Frühjahr in Chicago so sehr verändert hatte. Ich war ein völlig neuer Mensch. Der Abend des Feuers, der letzte Abend, an dem ich Zeit mit Lucian verbracht hatte, war doch der Anfang dieses Neubeginns gewesen.
Er schwieg kurz, sah mir tief in die Augen und sagte dann in lockerem Tonfall: »Schön, dich zu sehen.«
»Dich auch«, erwiderte ich. Aber das erschien mir irgendwie nicht genug. Ich suchte nach mehr, nach irgendetwas anderem. »Obwohl ich mir neben dir ganz schäbig vorkomme. Ich hatte ja keine Ahnung, dass unsere Verabredung so eine schicke Sache sein würde.«
»Ach, das.« Er sah an sich herab und wirkte einen Moment ganz verlegen. »Wenn man da runtergeschickt wird, bleibt quasi die Zeit stehen …« Jetzt meldete sich mein schlechtes Gewissen, immerhin war ich für seine Verbannung verantwortlich gewesen. »Also stecke ich in diesem Smoking fest, bis ich meine Strafe abgebüßt habe.« Er zog die Jacke aus und hängte sie über das Geländer.
»Und wann ist das?«
»Darüber muss ich eben mit dir reden.« Er ließ einen Moment den Kopf hängen und sprach die Worte nur zögerlich aus, als könnte er
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