Der Ruf des Kookaburra
Du bist sehr begabt, keine Frage. Deine Aufzeichnungen enthalten viel Interessantes. Aber, Emma, es ist trotzdem nicht mehr das, was du und dein Mann beantragt hattet.«
Alles in Emma wurde taub. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Worte durch eine zähe Masse schicken musste, bevor sie John erreichen konnten. »Wie meinst du das?«
Johns Daumen strich sanft über ihren Handrücken. Vorsichtig sagte er: »Ihr wolltet ein primitives, aber hochwirksames Heilsystem und dessen Einbettung in die Lebensweise der Wilden erforschen. Richtig?«
Sie nickte – unfähig, etwas zu sagen. Der Nebel in ihr war dichter denn je.
»Was du erforschst, wenn man sich deine Aufzeichnungen so ansieht, ist aber etwas anderes«, fuhr John fort. »Du beschreibst die Lebensweise des Clans, das schon. Aber das Heilsystem – Pasten, Salben, Tränke – bleibt fast vollständig außen vor. Lediglich die spirituelle Ebene findet Eingang in deine Notizen. Und die allein ist für uns Ärzte, für die Forschung, für die Zivilisation nichts wert. Verstehst du, was ich meine?«
Verstand sie?
Nichts wert. Ihre Aufzeichnungen waren nichts wert.
Oh ja, sie verstand.
»Ich denke, dass eine Frau«, rasch verbesserte John sich, »dass ein Mensch allein das Projekt einfach nicht stemmen kann. Es ist zu umfassend, zu anspruchsvoll, zu komplex. Ich sage nicht, dass deine Fähigkeiten zu gering sind, denn das sind sie nicht. Aber das Projekt war auf dich und deinen Mann zugeschnitten, Emma. Nicht auf dich allein.«
Alles brach zusammen, vor ihren fassungslosen Augen. Und sie, mit ihrem tauben Körper und dem leeren Kopf, mit diesen Händen, die wie zu Stein erstarrt auf dem Tisch lagen, konnte nichts tun, rein gar nichts, um die Zerstörung aufzuhalten.
»Aber wovon soll ich denn leben, wenn ich nicht mehr forschen darf?«, brach es verzweifelt aus ihr hervor.
»Heirate mich«, sagte John leise. »Heirate mich! Reise mit mir durch die Welt. Lass mich dir beweisen, dass noch mehr auf dich wartet, als einer verlorenen Liebe hinterherzutrauern. Ich kann dich glücklich machen! Das weiß ich, ich spüre es in meinem Herzen.« Plötzlich sah er sehr jung und verletzlich aus. »Emma, das Vermögen meiner Familie reicht aus, um dir all deine Wünsche zu erfüllen. Ich würde dich niemals zwingen, still am Stickrahmen zu hocken und einfach nur hübsch auszusehen. Ich weiß, dass du keine brave Gattin und Hausfrau werden möchtest. Aber deine Abenteuerlust kannst du auch als meine Ehefrau befriedigen! Dazu brauchst du nicht im Regenwald vor dich hin zu vegetieren.«
Emma fand Johns Blick, der fragend war und zugleich entschlossen.
Mit wenigen Sätzen hatte dieser Mann ihre beruflichen Hoffnungen zerschlagen. Und nun stellte er ihr unvermittelt ein völlig anderes, glanzvolles und sorgloses Leben in Aussicht.
War das ein Traum?
Und wenn ja, war dieser Traum gut oder böse?
»Ich kann dir Amerika zeigen«, sagte John beinahe flehend, als sie schwieg. »Oder Indien. Alles, wonach du dich sehnst. Heirate mich, Emma!«
Der Nebel in ihrem Kopf fühlte sich nun nicht mehr bedrohlich an, sondern verführerisch und weich. Sie betrachtete Johns Gesicht, die seidenkühlen Augen, die vollen, schön geschwungenen Lippen. Merkwürdig distanziert registrierte sie, dass sie John immer noch begehrte. Die Vorstellung, als seine Ehefrau alles mit ihm tun zu dürfen, wovon sie in den letzten Wochen so oft mit schlechtem Gewissen geträumt hatte, war verlockend. Vielleicht war sie ja schon in John verliebt.
Der Nebel wurde noch dichter.
Mit John würde alles so einfach sein.
Und ohne ihn? Was für ein Leben würde sie führen?
Carl war für immer verloren. Die Schwarzen wollten Emma nicht mehr bei sich haben. Ihr wissenschaftliches Projekt lag im Sterben. Wovon sollte sie leben, wenn sie Johns Antrag ablehnte? Sie würde arm sein und schlimmer noch: Sie würde ihr Baby verlieren. Denn ohne Geld wäre es unverantwortlich, Belle mit in die Zivilisation zu nehmen.
John zu heiraten war das einzig Vernünftige.
Gerade, als sie ihm durch den Nebel hindurch sagen wollte, dass sie seinen Antrag annahm, wurde die Tür des Kaffeehauses aufgerissen. Emmas Blick fiel auf den stürmischen Besucher – und sie unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei.
Johns Blick folgte ihr. Misstrauisch fragte er: »Kennst du den Herrn?«
Emma starrte den Mann an, den sie eine Sekunde lang für Carl gehalten hatte. »Nein.«
Der Neuankömmling war älter als Carl, ins Schwarz seiner
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