Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ruf des Kookaburra

Der Ruf des Kookaburra

Titel: Der Ruf des Kookaburra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
Vom Netzwerk:
immer … oder wenn jemand Belle etwas antun würde oder dir, John, oder Birwain … wofür würde ich mich entscheiden? Würde ich das Richten wirklich Gott überlassen? Ich bin mir da nicht mehr so sicher.« Sie hob den Kopf und sagte mit etwas schärferem Ton: »Das solltest du wissen, wenn du mich heiraten willst.«
    Johns Miene war unergründlich. »Ich soll also akzeptieren, dass die Bereitschaft zur Gewalt in dir schlummert.«
    Sie musste ehrlich sein. Sie wollte eine neue Beziehung nicht auf einer Lüge aufbauen. »Nicht zur grundlosen Gewalt. Aber vielleicht zur Rache.«
    John wandte sich ab. Mit dem Messer bereitete er die fertigen Fische zum Verzehr vor, er konzentrierte sich nur darauf, die Köpfe von den knusprig gerösteten Leibern zu trennen. Während er die Gräten aus dem weißen Fleisch entfernte, sagte er, ohne Emma anzusehen: »Hier geht es gar nicht um irgendeinen von uns, nicht wahr? Es geht um deinen Mann.«
    Emma zuckte zusammen.
    Stumm nahm sie den Teller, den John ihr reichte, und fing an zu essen. Sie widersprach John nicht, denn schon in dem Moment, als er es ausgesprochen hatte, hatte sie gewusst, dass es stimmte. Ja, es ging um Carl – um Carl und um denjenigen, der ihn ihr entrissen hatte. Mit Carls Abwesenheit hatte Emmas Unglück begonnen, und nicht nur ihres, sondern das des gesamten Clans: Purlimils Schuldgefühle. Ihre Schwermut. Der Verdacht des Seelenraubes, die Angst vor den D’anba, die Notwendigkeit der rituellen Wanderung – alles hatte seinen Ursprung in Carls Verschwinden. Nun herrschten Misstrauen und Furcht unter den Schwarzen, und von ihrem unbeschwerten Leben im Regenwald war nichts geblieben als eine schmerzende Erinnerung.
    Wenn Emma nun denjenigen in die Finger bekäme, der für all das verantwortlich war – würde sie dazu imstande sein, ihn zu verschonen? Würde sie Gnade vor Recht ergehen lassen, oder würde sie das fünfte Gebot, ohne zu zögern, brechen?
    Ihr fiel ein, wie sie sich gefühlt hatte, als sie Dayindi zur Rede gestellt hatte: wie ein tollwütiges Tier. Erbarmungslos, blind vor Hass und gierig nach Dayindis Blut.
    Bei Gott und allen Engeln, so wollte sie nicht sein.
    »Was soll ich bloß tun, wenn ich ihn wirklich finde?« In Emmas Augen schimmerten Tränen.
    »Das wirst du wissen, wenn es so weit ist«, entgegnete John ruhig. »Aber ich bin sicher, du wirst das Richtige tun.«
    Johns Vertrauen beschämte Emma, umso mehr, als sie es nicht teilen konnte. Nichts, nichts war mehr sicher, nicht einmal ihre tiefsten Überzeugungen von Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe. Wäre sie tatsächlich fähig, ihre Aufgabe zu erfüllen, auch wenn diese gar nicht darin bestand, auf symbolische Weise einem Geist beizukommen – sondern darin, ein lebendiges Wesen zu töten?
    Einen Menschen?
    Dann würde sie schlussendlich doch noch zum Henker. So wie Gunur es ihr bei dem Ritual unter dem kalkweißen Mond vorausgesagt hatte.
    Und danach? Wer werde ich sein, wenn ich einen Menschen umgebracht habe?
    Der Fisch auf ihrer Zunge schmeckte nach dem, was er war: tot. Plötzlich fand sie es morbide, ihn zu essen. Angeekelt stellte sie den Teller vor sich auf den Boden.
    Ein kühler Wind ließ die Glut aufstieben. Obwohl es bereits Frühling wurde, waren die Nächte noch kalt, und Emma fröstelte. John, der sie aufmerksam beobachtet hatte, zog sie an sich, um sie zu wärmen. Emma ließ es geschehen, und als er ihr Kinn mit dem Finger anhob, ihr in die Augen schaute und dann vorsichtig, fragend seine Lippen auf ihre senkte, entzog sie sich ihm nicht.
    Nur ein Kuss, wehte es durch ihren schmerzhaft pochenden Kopf. Es war nur ein Kuss, gegeben aus Liebe und empfangen aus dem Bedürfnis nach Trost. Es war nichts Schlimmes. Schlimm war nur das Ungeheuerliche, das sie würde tun müssen.
    Und noch schlimmer war, in was es sie verwandeln würde.

6
    B irwain rutschte das graue Fell über die Schultern. Brummend rückte er es zurecht.
    Zum ersten Mal seit Langem schickte der Himmel Regen auf die Erde, der Winter war zu Ende. Birwain spürte, dass die Pflanzen um ihn herum dankbar tranken, sich regten, sich bereitmachten. Er war froh, dass er es bemerkte; seine Verbindung zur nicht-menschlichen Welt schien wieder zu existieren. Das ließ ihn hoffen, auch das Zeichen nicht zu übersehen.
    Neben ihm lief Gunur leise vor sich hin schimpfend durch den Uferschlamm. So nah am Wasser zu gehen war mühsam, weil der getränkte Boden bei jedem Schritt glucksend an den Füßen zerrte.

Weitere Kostenlose Bücher