Der Ruf des Kookaburra
schon passieren, was ihr am Tage nicht ebenso passieren konnte? Die Landschaft – flach, gleichförmig und spärlich mit Eukalypten besetzt – war stets menschenleer. Sollte sie auf einen einsamen Reisenden treffen, der ihr Böses wollte, so hätte dieser bei Helligkeit ein ebenso leichtes Spiel wie in der Nacht.
Emma fürchtete sich auch nicht davor, sich zu verirren, denn mit Carl hatte sie den Weg nach Ipswich schon so oft zurückgelegt, dass sie und Princess ihn im Schlaf gefunden hätten. Nein, um sich selbst machte Emma sich keine Sorgen.
Aber um Carl.
Carl, an den sie ununterbrochen denken musste.
Emma trieb Princess energisch an. Ein sehr gemütlicher Galopp war alles, wozu sie ihre Stute überreden konnte, doch damit war Emma zufrieden. Auf diese Weise würden sie die Station um Mitternacht erreichen, und dies hatte Emma der Farmerin bei ihrem Aufbruch am Morgen angekündigt.
Emma und Carl übernachteten bei ihren kurzen Reisen nach Ipswich immer auf derselben Station, und man hieß sie dort stets herzlich willkommen. Die Farmersleute, Mr und Mrs Conolly, waren gebürtige Iren, was man ihnen mit ihren braun gebrannten Gesichtern allerdings kaum ansah. Sie waren als junges Ehepaar ausgewandert, lebten schon seit zwei Jahrzehnten in Australien und hatten sich eine bescheidene Schafzucht aufgebaut. Reich waren sie damit nicht geworden, das erkannte Emma an den geflickten Röcken der Frau und an der Dankbarkeit in ihren Augen, wenn Emma die Bezahlung für Übernachtung und Frühstück ein wenig aufstockte. Doch die Conollys schienen mit ihrem bescheidenen Wohlstand, ihren Schafen und den Hunden zufrieden zu sein. Sie strahlten ein ruhiges Glück aus, dem man sich kaum entziehen konnte, und Emma fühlte sich mittlerweile, als kehre sie bei Freunden ein, wenn sie auf der Station zu Gast war.
Dennoch hatte sie sich Mrs Conolly in der vergangenen Nacht nicht anvertraut. Die Farmerin hatte sie erstaunt gefragt, wo Emma denn diesmal ihren Mann gelassen habe, und Emma hatte etwas von »dringenden Forschungsarbeiten« gemurmelt.
Sie fragte sich, ob sie es ein zweites Mal fertigbringen würde, die freundliche Mrs Conolly anzuschwindeln. Nach der Enttäuschung auf der Polizeiwache fühlte Emma sich kaum mehr dazu imstande, die gelassene Fassade zu wahren.
Der Mond stand hoch am Himmel, als Emma endlich die Station erreichte. Sie zügelte Princess und ritt im Schritt durch das, was die Conollys ihren Garten nannten. Selbst im Dunkeln fand Emma den Garten bezaubernd.
Sie atmete tief ein, und als ihr Blick über die im Licht der Sterne glänzenden Zierbäume schweifte, fühlte sie einen Moment lang fast so etwas wie Frieden. Trotz ihres Kummers nahm sie die Schönheit um sich herum mit allen Sinnen wahr: den kühlen Wind, der einen Hauch von Herbst auf ihrer Haut hinterließ, das geschäftige Rascheln der nächtlichen Fauna. Feigen mit ihren weit ausladenden Kronen verschmolzen mit der Dunkelheit, zierliche Granatapfelbäume verwoben ihre Äste mit Hibiskussträuchern und einheimischen Kirschbäumen. Es roch nach Dunst und feuchter Erde, und nach der Eintönigkeit der letzten Meilen kam der Garten Emma wie ein kleines Paradies vor.
Unwillkürlich kam ihr das Glück in den Sinn, das sie im vergangenen September hier verspürt hatte.
Auch damals war sie auf dem Rückweg in den Regenwald gewesen, aber nicht allein. Sie war mit Carl im letzten Abendlicht durch den Garten gewandert, und er hatte sie unter dem grünen Baldachin einer Feige geküsst …
»Keine Frau auf der Welt hat so weiche Lippen wie du, Emma, weißt du das?«
Neckend fragt sie: »Ach, hast du schon alle Frauen durchprobiert?«
Er lächelt. »Das brauche ich nicht. Ich weiß es auch so.«
»Gut, denn etwas anderes will ich dir auch nicht geraten haben!« Sie versucht, streng zu schauen, was ihr nicht gelingen will.
Er zieht sie an sich. »Komm her, Kratzbürste, gib mir noch einen Kuss.«
»Kratzbürste? Ich? Also, mein Lieber, deinen Kuss bekommst du erst, wenn du die Kratzbürste zurücknimmst!«
»Niemals.« Leise lacht er. »Ehrlichkeit ist nämlich eine Tugend, die ich auch weiterhin kultivieren möchte. Aber weißt du was? Ich liebe dich, kratzbürstige Emma, und ich will dich kein bisschen anders haben, als du bist. Ich liebe dich.«
Das genügt ihr als Entschuldigung.
Sein Kuss schmeckt süß und vielversprechend.
Emma spürt die Bewegung seiner Lippen an ihrem Mund, als er flüsternd hinzusetzt: »Nur dich, Emma. Ich liebe nur
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