Der Ruf des Kulanjango
Neuigkeiten, tut mir leid.
Mein Vater und mein Bruder waren heute fischen und haben nach Iris Ausschau gehalten. Ich wäre gerne mit, aber ich konnte nicht. Ein amerikanischer Medizinstudent mit Namen Max ist mit ihnen rausgefahren. Er probierte sein GPS aus, um sie zu finden. Max hat erzählt, dass sie zu dem Ort gefahren sind, von dem das letzte Signal von Iris kam, aber sie war nicht dort.
Die Kulanjango sind für die Fischer sehr wichtig. Mein Vater sagt, dass er den Marabut aufsuchen will. Das ist der alte weise Mann in unserem Dorf. Der Marabut ist blind, aber er sieht Dinge, die andere Menschen nicht sehen. Vielleicht kann er helfen, Iris zu finden. Mein Vater hat heute keinen einzigen Fisch gefangen.
Hoffentlich kann ich Dir morgen gute Neuigkeiten senden.
Jeneba
Ich rief Hamish auf dem Handy an und erzählte ihm, dass sie Iris nicht am Ort des letzten Signals gefunden hatten und ihr Signal jetzt ganz verschwunden war. Hamishs Enttäuschung konnte man fast durchs Telefon spüren. Er meinte, vielleicht habe sich das Gurtgeschirr gelöst, mit dem der Sender gehalten wurde. Es sei so konstruiert, dass es sich eines Tages selbst öffnet. Vielleicht ging es ihr gut und sie flog immer noch umher.
Aber ich wusste, dass sie genauso gut irgendwo im Bauch eines Krokodils gelandet sein konnte.
Fünf Tage waren nun vergangen, seit Iris sich das letzte Mal bewegt hatte. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass irgendetwas schieflief. Wenn sie noch lebte, würde sie inzwischen vom Hunger geschwächt sein. Uns lief die Zeit davon.
Kapitel 28
Von: Jeneba Kah
Gesendet: 10. Oktober, 06:30 WEZ
Betreff: Suche nach Iris
Hallo Callum,
gerade habe ich Max bei der Morgenvisite gesehen. Er war gestern Abend mit meinem Vater und den Dorfbewohnern beim Marabut. Der Marabut lebt in einer kleinen Hütte außerhalb vom Dorf, zwischen den Erdnussfeldern und den Mangrovenwäldern. Max hat gesagt, dass der Marabut nasse Blätter über einem kleinen Feuer verbrannt hat und sich seine Hütte mit süßem Rauch füllte, der wie Blumen nach der Regenzeit duftete. Er hat gesagt, dass der Marabut seine Arme wie Flügel ausbreitete und den Vogelgeist rief. Der Rauch zog wie ein großer weißer Vogel aus der Hütte und flog über den Wald davon. Max hat gesagt, er habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Ich glaube nicht, dass sie in Amerika Marabuts haben.
Heute fährt der Marabut auf dem Boot meines Vaters mit, um Iris zu finden. Er hat den Leuten aus meinem Dorf erzählt, dass er diesen Vogel in seinen Träumen gesehen hat. Er hat gesagt, dass er die Zukunft des Dorfes auf seinen Flügeln trägt. Jetzt werden alle aus dem Dorf nach Iris suchen.
Der Marabut irrt sich nie.
Max wird mitkommen. Er nimmt seine Kamera mit, um mir die Fotos zu zeigen, wenn sie zurückkommen.
Dr. Jawara möchte jetzt seinen Computer benutzen, also werde ich Dir später Neuigkeiten von Iris schreiben.
Deine Freundin Jeneba
Auf dem Weg zur Kirche las ich Mum und Dad die E-Mail vor.
»Klingt mir ein bisschen nach Voodoozauber«, meinte Dad, »nach Medizinmann und solchen Sachen.«
»Vielleicht gibt es einen Vogelgeist«, sagte ich.
»Das ist ein bisschen weit hergeholt«, sagte Mum.
»Wenn du drüber nachdenkst, ist das unsere Religion auch«, wandte ich ein. »Wir sollen an den Heiligen Geist glauben und an jede Menge Wunder und so.«
»Das solltest du«, bestätigte Mum.
Dad hielt gegenüber dem Kirchhof. »Nun kommt schon«,sagte er, »wollen mal sehen, was uns Marabut Parsons diese Woche zu sagen hat.«
Mum warf Dad einen strengen Blick zu. Ich lachte und folgte ihnen unter den Eiben den Weg hinauf in die kleine Kirche.
Pastor Parsons hielt seine Predigt von der hölzernen Kanzel aus. In die Kanzelhaube war ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln eingeschnitzt. Vielleicht war das ein Vogelgeist. Vielleicht konnte der Marabut Iris irgendwie sehen und spüren. Ich schloss meine Augen und versuchte sie mir in den Mangrovenwäldern vorzustellen. Ich dachte an das letzte Signal, das ich in mein Tagebuch eingetragen hatte, und grübelte darüber, was Iris möglicherweise zugestoßen war und wo sie sich genau in diesem Augenblick aufhalten konnte.
Iris presste sich an die glatte Rinde des Mangrovenbaums. Die ansteigende Flut wirbelte um das verschlungene Wurzelwerk. Kleine Fische flitzten aus den Schatten und wieder hinein. Ein klopfender Schmerz durchfuhr den Körper des Vogels. Die alte Wunde am Fuß war gerötet und geschwollen und aus ihr
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