Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
vorsichtig: »Kannst du mir erklären, was hier vor sich geht?«
Myra zögerte. »Ich weiß es selbst nicht genau. Diese Felssäulen … Sie haben mich in andere Welten gebracht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du bist Indianer«, fügte sie hinzu. »Du weißt sicherlich mehr über diese Dinge als ich.«
Chad antwortete nicht, aber er wusste in diesem Augenblick, dass es wichtig und richtig war, Myra zu Heather zu bringen.
Die Fahrt dauerte ungefähr eine Stunde. Myra und Chad sprachen wenig. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Ab und zu warf Chad Myra einen kurzen Seitenblick zu, und jedes Mal errötete sie. Chad war erstaunt über die starke Anziehung, die Myra auf ihn ausübte, und seine Gefühle verwirrten ihn.
Auch Myra beobachtete Chad so unauffällig wie möglich. Es war wie verhext. Noch nie in ihrem Leben hatte Myra sich so seltsam gefühlt. Was machte sie hier, allein mit einem fremden Mann in dessen Auto, auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel in dunkler Nacht? Sie verbesserte sich sofort. Sie kannte Chad ja schon, wenn auch nicht aus dieser Welt, und er war in gewisser Weise kein Fremder für sie. Und auch Heather, zu der sie jetzt unterwegs waren, kannte sie in ihrem Herzen wie eine Großmutter. Aber die Geschehnisse kamen ihr in diesem Augenblick unwirklich und unbegreiflich vor. Konnte das wirklich alles wahr sein?
Myra hatte keine Zeit, länger darüber nachzugrübeln, weil sie ihr Ziel erreicht hatten. Chad hielt vor einem Mehrfamilienhaus an, in dem Heather Blue Knife wohnte. Es war weiß angestrichen und besaß drei Stockwerke. Die Fenster waren zu dieser späten Stunde fast alle dunkel. Eine Straßenlaterne warf ihr Licht auf die Rasenfläche und die Blumenbeete vor dem Haus. Myra musste an Heathers kleines Haus denken, das sie auf ihrer Reise durch die Zeit gesehen hatte. Wie viel schöner hatte Heather es dort gehabt, mitten in der Natur.
Chad musste zweimal klingeln, bevor Heather antwortete.
»Wer ist da?«, erklang die freundliche Stimme seiner Großtante durch die Gegensprechanlage.
»Ich bin es, Chad«, erwiderte er.
Sofort ertönte der Summer, und Chad öffnete die Tür. Myra folgte ihm die Treppe hinauf in den ersten Stock zu einer Wohnungstür, wo Heather schon auf sie wartete.
»Kommt rein, kommt rein, Kinder!«, rief sie herzlich, als sie die beiden jungen Leute sah. »Was für eine schöne Überraschung!«
Sie umarmte Chad herzlich und wandte sich dann an Myra. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass sie sich schon fürs Bett zurechtgemacht hatte und die jungen Leute in Nachthemd und Bademantel empfing.
»Wen haben wir denn hier?«, fragte sie und warf ihrem Großneffen einen vielsagenden Seitenblick zu. Dann entdeckte sie die Wunde an Myras Schläfe.
»Kind, was ist denn mit dir passiert?«, entfuhr es ihr entsetzt.
Myra legte unwillkürlich die Hand auf die Platzwunde. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Chad half ihr.
»Dies ist Myra Morgenstern, Tante. Ich habe sie beim Bergsteigen am Thunder Mountain getroffen. Es gab eine Steinlawine. Aber das ist eine längere Geschichte. Myra, dies ist meine Großtante Heather Blue Knife.«
Heather schüttelte Myras Hand und blickte besorgt von einem zum anderen.
»Kommt ins Wohnzimmer und setzt euch. Ich werde uns einen Tee kochen, und dann könnt ihr mir ausführlich berichten.«
»Es tut mir wirklich leid, dass wir so spät am Abend stören«, begann Myra, aber Heather wehrte ab.
»Setzt euch, Kinder. Ich bin gleich wieder da.«
Myra und Chad nahmen in Heathers kleinem Wohnzimmer auf einem gemütlichen braunen Sofa Platz. Während sie darauf warteten, dass Heather mit dem Tee aus der Küche zurückkam, versuchte Myra, ihre Gedanken zu ordnen. Die ältere Heather, die sie auf ihrer Reise in die Zukunft kennengelernt hatte, war ihr noch so lebhaft vor Augen, dass es ihr schwergefallen war, sie nun nicht anzustarren. Eine zwanzig Jahre jüngere Heather! Ihr Haar war zwar auch jetzt schon mehr weiß als silbergrau, und auch ihre weisen dunklen Augen strahlten in unverändertem Glanz, aber ihr Gesicht war glatter und voller, und ihre zierliche kleine Gestalt ging aufrechter. Sie musste Anfang siebzig sein, und sie sprühte vor Lebenskraft und Energie. Ein unerklärliches Gefühl von Vertrautheit breitete sich in Myra aus, und ihre innere Anspannung begann zu weichen.
Heather kam mit dem Tee und drei Tassen aus der Küche zurück, schenkte ein und setzte sich zu ihnen. Dann blickte sie die jungen Leute erwartungsvoll
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