Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
gehabt, darüber nachzudenken, was das für sie bedeutete. In den vergangenen Stunden hatte sich herausgestellt, dass Chad nicht nur gut aussah, klug war und gute Manieren hatte, sondern dass er auch seine indianische Kultur, seine Mitmenschen und die Wildnis über alles liebte, dass er ein Familienmensch war, rücksichtsvoll und einfühlsam, und dass er über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt verfügte. Konnte eine Frau sich mehr wünschen? Für Myra jedenfalls stand in diesem Augenblick fest, dass sie sich genau so einen Mann immer erträumt hatte.
Mitten in diese Gedanken drängten sich plötzlich Heathers warnende Worte vom vergangenen Abend, und ihr Herz wurde schwer. Doch das Kribbeln in ihrem Bauch vermochten sie nicht zu verdrängen.
Später, als sie im Auto die Muffins verdrückten und Kaffee schlürften, wanderte das Gespräch dann wieder zu den Geschehnissen des gestrigen Tages zurück.
»Ist es für euch Indianer normal, einfach so durch andere Welten zu wandern?«, wollte Myra wissen. Sie fühlte sich erschöpft. Chad schien ihre Reise in die Geisterwelt viel leichter zu verarbeiten als sie selbst. Hinzu kam, dass die Schmerzen, die von ihrer Kopfwunde herrührten, zwar in der Nacht ein wenig nachgelassen hatten, aber Myra hatte trotzdem nicht viel Ruhe finden können.
Lachend schluckte Chad den Bissen, den er im Mund hatte, hinunter.
»Nein, selbst für Indianer ist das etwas ganz Besonderes«, erklärte er schmunzelnd und fügte ernst hinzu: »Es muss einen bestimmten Grund dafür geben, dass es dir erlaubt war, dort zu verweilen.«
Draußen wurde es langsam heller, und ein paar Sonnenstrahlen versuchten erfolglos, sich durch die dichten Nebelschwaden zu drängen. Myra machte das nichts aus. Sie liebte die sonnigen Tage, aber auch die trüben. Der Nebel hing wie Watte in den Zedern und ließ sie noch mystischer aussehen, und die Luft war wie gesättigt mit Sauerstoff und Feuchtigkeit. Würde man an einem solchen Tag spazieren gehen, so wäre es, fand Myra, wie eine kostenlose Verjüngungskur.
»Ich frage mich«, warf sie sinnend ein, »was das alles zu bedeuten hat.«
Chad wusste keine Antwort auf ihre Frage. Stattdessen sagte er: »Die Ältesten werden nicht für immer unter uns sein, und ihr Wissen um unsere Sprache, um die alten Sitten und Geschichten, aber auch um unsere Spiritualität ist unbezahlbar. Menschen wie Heather sind das Herz der Wiederbelebung unserer Kultur. In meinem Leben spielen all diese Dinge eine wichtige Rolle. Ich weiß nicht, wie es bei dir ist. Glaubst du an Geistwesen?«
Myra war erstaunt über diese Frage, und sie wusste im ersten Augenblick nicht, was sie davon halten sollte.
»Ich habe nie darüber nachgedacht«, begann sie zögernd. »Aber auf eine bestimmte Art und Weise habe ich immer an Geistwesen geglaubt. Ich denke, man kann gar nicht anders, wenn man sich, so wie ich, von frühester Kindheit an immer in der Natur bewegt. Gerade Kindern fallen Kleinigkeiten auf, die Erwachsene oft übersehen, und ich erinnere mich an viele solche Situationen. Du fragst dich: Woher kommen die Geschenke, die die Natur für uns bereithält? Wer ist ihr Hüter? Du spürst die unterschiedlichen Schwingungen, die von den Pflanzen und den anderen Lebewesen in der Natur ausgehen, und du spürst auch, dass du dort draußen nie allein bist – auch wenn kein anderer Mensch in der Nähe ist.«
»Ich bin froh, dass du so denkst«, erwiderte Chad erfreut. Myra war offen für die Stimmen der Geistwesen – eine Eigenschaft, die er bisher erst bei wenigen Weißen entdeckt hatte. Das würde es ihm erleichtern, Myra die möglichen Zusammenhänge der Geschehnisse näherzubringen.
Abermals wunderte sich Chad, wie sie als Außenstehende in die Auswirkungen der Zeremonie, an der er selbst teilgenommen hatte, hineingezogen worden war. Denn dass die Geschehnisse mit der Zeremonie in Verbindung standen, spürte er sehr deutlich. Aber er konnte keine Antwort auf diese Frage finden. So viel stand jedoch fest: Es war eine außergewöhnliche Situation von äußerster Wichtigkeit. Und genau wie Myra spürte auch Chad das Gefühl der Dringlichkeit, das seit ihrem Besuch in der Geisterwelt über ihnen schwebte. Aber welche Rolle war Myra dabei zuteilgeworden? Was wurde von ihr verlangt?
Chad hielt es für besser, Myra nicht noch mehr aufzuwühlen, und er entschied sich, ihr fürs Erste nichts von der Zeremonie und den Worten der Ältesten zu erzählen.
In den folgenden Stunden gingen sie
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