Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
schwer es ihr fallen würde, ihn zu befolgen, konnte die alte Dame nicht wissen. Tief in ihrem Innersten spürte Myra aber, dass Heather recht hatte. Etwas Außergewöhnliches ging vor sich, und es war noch nicht vorüber.
»Es ist sehr wahrscheinlich, dass all dies mit der Zeremonie gestern Abend zu tun hat«, wandte Chad sich leise an seine Tante, bevor er sich endgültig verabschiedete. »Halte die Augen offen. Wir können nicht wissen, was noch kommt, und ich möchte nicht, dass dir etwas passiert.«
Myra und Chad ahnten nicht, dass sie beobachtet wurden, als sie das Haus verließen und wieder in Chads Wagen stiegen. Ein schwarzgekleideter Mann tauchte aus dem Dunkeln auf und ließ die beiden jungen Leute so lange nicht aus den Augen, bis sie davongefahren waren. Dann ging er langsam zur Eingangstür des Wohnhauses und studierte die Namen an den Klingelschildern.
Als er kurz darauf wieder im Dunkeln der Nacht verschwand, wusste er nicht, dass auch er beobachtet worden war. Heathers scharfe Augen hatten ihn vom Küchenfenster aus erspäht.
Myra und Chad verließen Fort Duffey auf dem Highway. Einige Kilometer außerhalb der Stadt hielt Chad an einer Raststätte an.
»Du erzählst mir besser alles, was du weißt«, forderte er sie mit sanfter Stimme auf und sah sie erwartungsvoll an.
»Wirst du mich auslachen?«, fragte sie unsicher.
Chad sah sie ernst an und schüttelte den Kopf.
Also fing Myra an zu erzählen. Sie begann ganz am Anfang, bei dem Heiratsantrag von Jerry und bei ihrem Job, denn diese Vorfälle waren die Gründe für ihre Bergtour gewesen. Sie versuchte, sich an jede Einzelheit zu erinnern, nachdem sie am Morgen die Tankstelle verlassen und zum Thunder Mountain aufgebrochen war, besonders aber an die Zeit, in der sie auf der anderen Seite der Säulen gewesen war. Sie berichtete ausführlich von Runa, aber es fiel ihr schwer, über die Dinge zu sprechen, die sie als ihr älteres Ich erlebt hatte, insbesondere über ihre Gefühle zu ihrem Ehemann, hatte es sich dabei doch um Chad gehandelt. Während sie erzählte, sah sie immer wieder unsicher zu ihm hinüber und fragte sich, wie er reagieren würde.
Aber Chad schien in keinster Weise erstaunt zu sein. Er wusste zu viel über die Geisterwelt seines indianischen Volkes. Nie würde er das, was Myra ihm erzählte, ins Lächerliche ziehen. Im Gegenteil: Es war von größter Wichtigkeit, das spürte er. Er wusste nicht, wie er ihr helfen konnte, er wusste nur, dass er in die Vorkommnisse verwickelt war. Das galt auch für Heather.
Besonders nach der Zeremonie gestern wagte er es nicht, irgendetwas von den sonderbaren Geschehnissen in Frage zu stellen. Er wusste nicht, warum und auf welche Art Myra mit alldem verbunden war. Er wusste nur, dass er dem dringlichen Rat der Ältesten folgen musste: Er musste helfen, so gut er konnte.
Chad überlegte auf die für ihn typische sachliche Art und stellte dann ruhig fest: »Einiges scheint klar zu sein: Runa ist die Frau aus der Legende. Die Felssäulen sind ein Tor in andere Welten, in andere Zeiten oder Wirklichkeiten, wie immer man es nennen möchte. Und die Zeit, die du in den anderen Welten verbracht hast, ist auch hier, in unserer Realität, verstrichen. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Wie oft habe ich mich in den letzten Stunden gefragt«, sagte Myra, »ob ich verrückt geworden bin, einfach übergeschnappt. Aber als ich dich auf dem Berg getroffen und wiedererkannt habe, wusste ich, dass alles wahr ist.«
K APITEL 5
Thunder Mountain
E s war früh am Morgen, und dichte Nebelschleier hingen zwischen den Bäumen. Myra und Chad hatten im Auto auf der Raststätte geschlafen. Chad meinte, es sei am sichersten, unsichtbar zu bleiben, bis sie genauer wussten, worum es bei den Ereignissen des vergangenen Tages wirklich ging.
Myra hatte nur zu gern zugestimmt. Da sie gestern Nachmittag mit Jerry endgültig Schluss gemacht hatte, gab es für sie im Augenblick keinen Platz mehr, den sie ihr Eigen nennen konnte. Und es war ihr lieber, nach den Geschehnissen der vergangenen Stunden nicht allein zu sein.
Chad kam von dem kleinen Bistro zurück, das zu der Raststätte gehörte, zwei Becher Kaffee in den Händen und eine große Tüte mit Muffins und Sandwiches unter dem Arm. Er näherte sich dem Wagen mit leichten Schritten, ein Lächeln auf dem Gesicht.
Myra erwiderte sein Lächeln, und ein wohliges Gefühl durchflutete ihren Körper, wie jedes Mal, wenn Chad sie anlächelte. Sie hatte bisher keine Zeit
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