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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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wieder und wieder jede Einzelheit von Myras Besuchen durch, wie sie die Zeit in der Geisterwelt getauft hatten, aber sie fanden keine Erklärung dafür, warum ausgerechnet ihr dieses Privileg zuteilwurde und was sie mit dem dort Erlebten und Gesehenen tun sollte. Auch das Wissen um den Talisman schien nicht hilfreich zu sein.
    Die beiden saßen noch immer im Auto. Der Nebel hatte sich längst aufgelöst, und die Wolken waren verschwunden. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Junihimmel auf den Parkplatz und die umliegende Berglandschaft herab. Im Auto war es jetzt so warm, dass sie alle Fenster geöffnet hatten. Welch eine Wohltat nach der letzten Nacht, in der Myra ziemlich gefroren hatte, als sie, nur mit einer kleinen Baumwolldecke zugedeckt, im Auto hatte Schlaf finden wollen!
    Myra streckte sich. »Wir kommen nicht von der Stelle«, meinte sie erschöpft. »Lass uns spazieren gehen. Vielleicht bringt uns das auf den richtigen Gedanken.«
    Sie stiegen aus dem Auto und wanderten in der Nähe des Rastplatzes ziellos umher. Myra genoss die wärmenden Strahlen der Sonne und die warme Brise, die in ihren Haaren spielte. Sie sog die würzige Luft der Zedern und des weichen Waldbodens ein und blickte liebevoll zu den Bergen, die sich, dicht mit Fichten und Zedern bewachsen, auf beiden Seiten des Highways gen Himmel streckten. Hier und dort ragten raue Felsen zwischen den Bäumen hervor und gaben der Landschaft ihr urwüchsiges Aussehen, das Myra so liebte. Dies war ihre Heimat. Hier gehörte sie her. Sie hätte nie von hier fortziehen sollen!
    Einen Augenblick lang fielen alle Sorgen und aller Druck von ihr ab. Die Wildnis, die Natur, hatte bei ihr schon immer diese heilende Wirkung, ganz gleich, wie alt sie war oder in welcher Lebenssituation sie sich befand. Myra war jedes Mal dankbar dafür, besonders aber an diesem Tag.
    Die beiden jungen Leute unterhielten sich leise, während sie den steinigen Pfad entlanggingen, der um die Raststätte herumführte.
    »Wieso hast du deine Kanzlei gerade in Boulder Landing eröffnet?«, fragte Myra und versuchte, ein weniger belastendes Thema anzuschneiden.
    »Indianische Anwälte bekommen oft Jobangebote, die viel Geld versprechen. Von der Regierung bis hin zum Militär scheint man sich die Finger nach uns zu lecken«, erklärte Chad. »Mir wurde eine lukrative Stelle in Ottawa angeboten. Aber das viele Geld und das süße Leben, das sie mit sich bringt, ist nichts für mich. So viele Indianer jagen dem Lebensstil der Weißen nach und werden krank dabei. Ich denke, es kommt nicht von ungefähr, dass Diabetes unter den Ureinwohnern so weit verbreitet ist. Unsere ursprüngliche Lebensweise gleicht in keiner Weise der der Weißen . Sie hat jeher nichts mit Geld, mit süßem Leben und Schnelllebigkeit zu tun, sondern fußt auf ganz anderen Werten: Familie, Respekt, Ehre und sich Zeit nehmen für den anderen. In Boulder Landing werde ich vielleicht nicht im materiellen Sinn reich werden, dafür aber als Mensch.«
    Myra verstand Chads Motive. Seine Worte stärkten ihren eigenen Entschluss, dass sie ihren unbefriedigenden Job aufgegeben hatte.
    Während sie sich unterhielten, studierte Chad Myras Charakter, wägte ihre Worte ab und ihre Gesten und entdeckte dabei, dass ihr Wesen ihn sehr an das einer Indianerin erinnerte: ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur und ihre Liebe für alle Lebewesen darin, ihr Misstrauen gegenüber Fremden, ihre Vorliebe für die einfachen Dinge im Leben, ihr Überlebenswille und ihre Offenheit für die Geisterwelt. Das alles waren Dinge, die er an den Menschen seines Volkes schätzte und die er auch in sich selbst fand.
    Daher traf es ihn nicht unvorbereitet, als Myra ihn plötzlich fragte: »Meinst du, ich könnte noch einmal zwischen den Felssäulen hindurchschreiten und sehen, ob ich mehr herausfinden kann? Über das, was vor sich geht, meine ich. Was es zum Beispiel mit Morris auf sich hat?«
    »Simon Morris«, überlegte Chad. »Er scheint sich sehr für den Talisman zu interessieren.«
    »Umso wichtiger ist es, dass ich versuche, noch einmal in die Geisterwelt zu reisen. Vielleicht kann ich etwas Wichtiges herausfinden. Offensichtlich geht es Morris um den Talisman oder um etwas, das damit in Verbindung steht.«
    »Vergiss nicht, dass es sich der Legende nach um einen sehr starken Talisman handelt, Myra. Selbst wenn es ihn wirklich gäbe, selbst wenn es einem Menschen gelingen würde, ihn zu finden, müsste dieser wahrscheinlich über

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