Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
Vom Netzwerk:
eingefangen, vielleicht war das die Erklärung.
    Der Morgen graute eben, das Licht war noch fahl und bleich, sie hatte gerade etwas groggy, aber dennoch wachsam einen Ausfall zur Toilette am Ende des Gangs unternommen – Gott sei Dank war noch niemand auf – und war dann zurück in ihr Zimmer gehuscht, um dort wieder ins Bett zu fallen, als hätte man die Beine unter ihr weggeschossen. Noch dreißig Sekunden, und sie wäre wieder eingenickt, zurück ins Vestibül des Schlafs geglitten, doch da läutete tief im Innern des Hauses das Telefon und holte sie zurück. Das Geräusch war leise und fern, das Summen eines Insekts in der anderen Ecke des Zimmers – aber sie wusste, dass es ihr galt. Sie wusste es einfach. Ganz schwach, auch wieder von weit her, hörte sie Schritte – Owens Schritte –, die durch den Korridor im Erdgeschoss zum Telefon gingen, das in der Halle stand. Sie zwang sich, die Augen geschlossen zu halten, um es abzuschütteln, aber das Telefon läutete, und sie wusste, dass es für sie läutete.
    Es läutete drei-, viermal, und beim fünften Mal brach der Ton abrupt ab. Owens Worte konnte sie unmöglich hören, aber sie stellte sie sich vor und horchte dann, als er sich wieder in Bewegung setzte, auf seine dumpfen, stetigen Schritte, die erneut die Halle durchquerten, die Treppe heraufkamen und sich nun durch den oberen Korridor näherten. Sie fuhr hoch. Es ging um ihren Vater, sie war sich ganz sicher. Die Ärzte hatten ihn gewarnt – der Stress im Gerichtssaal, zu wenig Schlaf, immer der volle Einsatz beim Tennis und Squash, die Zigaretten und Martinis, die T-Bone-Steaks. Ihr Vater! Kummer überwältigte sie. Sie sah das Gesicht ihres tate so klar vor sich, als stünde er neben ihr, das Blitzen seiner Nickelbrille, die grauen Strähnen in seinem Bart, den großmütigen Ausdruck in den Augen dieses gerechten, weisen und friedliebenden Mannes … Natürlich würde es ein Begräbnis geben, und das würde bedeuten, dass sie Thanatopsis House eine Woche oder sogar länger verlassen musste. Schwarzer Krepp. Sie würde gut darin aussehen, schmal in den Hüften, und ihre gebräunte Haut würde schimmern … aber ihr Vater, es war doch ihr Vater, ihr Daddy, und jetzt stand sie ganz nackt und allein im Leben –
    Die Schritte hielten vor ihrer Tür inne, und dann folgte Owens Klopfen und das gedämpfte Raunen – keine fremdsprachlichen Spielereien diesmal, kein Funken von Humor: »Ruth, es ist für dich. Ein Ferngespräch.«
    Sie hatte es gewusst.
    »Es ist Saxby.«
    Saxby? Plötzlich verfinsterte sich das Bild. Mit ihrem Vater war alles in Ordnung, er war am Leben, so gesund wie der Gesundheitsminister persönlich, und schlief friedlich in seinem Haus, einer tadellosen Adresse in Santa Monica. Aber es war doch erst – was, sechs Uhr? Was konnte Saxby um sechs Uhr morgens wollen? In kurzer Panik schlug ihr Herz etwas schneller – war er verletzt? Aber nein. Warum sollte er anrufen, wenn er verletzt war – in diesem Fall müsste die Polizei oder das Krankenhaus am Apparat sein, oder? Und dann fielen ihr seine Fische ein. Wenn er sie nur wegen ein paar verdammten glupschäugigen Fischen aus dem Bett scheuchte –
    »Ruth, wach auf. Telefon.«
    Sie riss sich zusammen. »Ja, ja, ich bin schon wach. Sag ihm, ich komme gleich.«
    Die Schritte entfernten sich. Sie bückte sich, um den wüsten Haufen auf dem Boden vor dem Bett zu durchwühlen, auf der Suche nach ihrem Frotteebademantel, den Zigaretten und vielleicht irgendetwas, was sie sich um den Kopf schlingen konnte, falls sie unterwegs auf jemanden traf. Auf den Bademantel stieß sie bald –
    den hatte sie aus einem Hotel in Las Vegas mitgehen lassen, wo sie auf der Fahrt von Kalifornien abgestiegen war; inzwischen zierte ihn über der linken Brust ein satter rötlicher Fleck, er stammte von einem Glas Preiselbeersaft, das sie sich darübergekippt hatte –, und auch die Zigaretten fanden sich, aber weder das Feuerzeug noch ein Tuch für die Haare. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel der Frisierkommode – eingefallene Augen, zu viel Nase, ein Gewirr von kleinen schraffierten Linien, die an ihren Mundwinkeln zerrten –, ehe sie, die Zigaretten in der Hand, in den Gang hinausschlich, wo sie unerwartet in die riesengroßen, erschrockenen Zigeuneraugen von Jane Shine starrte.
    Jane war auf dem Weg zur Toilette. Sie trug einen alten Seidenkimono über einem Nachthemd aus Voile, und ihre Füße wurden von einem Paar hübscher rosa Satinpantoffeln

Weitere Kostenlose Bücher