Der Sarg: Psychothriller
Lippen sehen und die Augen. Sie waren vorher zugeklebt gewesen. Jemand hatte das Klebeband entfernt. Etwa die Frau …? Nein, das war unmöglich, sie … Die Atemnot wurde zu groß, mit einem Ruck sog Eva gierig die Luft ein. Vielleicht waren die Augen und die Lippen auch gar nicht zugeklebt gewesen? Vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet?
Nein, weg
, sie musste solche Gedanken wegschieben. Sie war nicht verrückt. Ihr Blick heftete sich wieder bewusst auf die Wangenknochen, die so spitz herausstanden, als ob sie jeden Moment die dünne Haut durchstechen würden, die über ihnen lag.
Dann wanderte ihr Blick zu den Augen.
Kein Klebeband.
Sie waren schlimm, diese halb geöffneten Augen, unter denen sie einen Teil der Pupillen sehen konnte, die fürchterlich stumpf ihren toten Blick gegen die Decke gerichtet hatten.
Endlich schaffte es Eva, sich loszureißen, das weiße, mit Seide überzogene Kopfkissen zu registrieren und den Blick auf das Schild zu richten. Bevor sie jedoch den Text las, sah sie, dass unter diesem Schild, auf dem Bauch der Frau, eine Rolle graues Textilklebeband lag.
Das gleiche Klebeband …
Dann war ihr Blick auf dem Schild. Die Schrift war eindeutig eine andere als die bei den bisherigen Nachrichten. Kaum lesbar, und doch …
Klebe deine Augen zu
Klebe deinen Mund zu
Leg dich zu ihr
Schließ den Sarg
oder ich töte dich
50
Menkhoff versuchte in sich hineinzuhorchen. War es möglich, dass Eva Rossbach recht hatte mit ihren Vermutungen? Konnte ihr Bruder noch am Leben sein? Oder bestätigte das, was sie gerade von Wiebke Pfeiffer gehört hatten, nicht eher seine Theorie, dass Eva Rossbachs Stiefmutter damals ihren kleinen Sohn umgebracht und die ganze Paddelbootnummer inszeniert hatte, um den Mord zu vertuschen? Was ihr letztendlich ja auch gelungen war.
»Wie denken Sie darüber, Frau Pfeiffer?«, fragte er nun. »Halten Sie es für möglich, dass Frau Rossbachs Bruder noch lebt?«
Sie sah ihn offen an. »Ich weiß es nicht, wirklich. Das ist eine andere Welt. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, wissen Sie, Gewalt gab es in unserer Familie nie. Weder mein Vater noch meine Mutter hätten jemals die Hand gegen meine Schwester oder mich erhoben. Ich weiß ja, dass es solche schrecklichen Dinge gibt, aber das ist für mich alles sehr schwer vorstellbar, vor allem, wenn es um eine Familie wie die Rossbachs und dann auch noch um meine Freundin geht. Eva ist sicher kein einfacher Mensch, aber sie ist ehrlich, und wenn sie sagt, dass Manuel noch lebt, dann ist das nicht einfach nur so eine Behauptung. Dann ist sie wirklich davon überzeugt. Und wer, wenn nicht sie, könnte am ehesten ahnen, was damals passiert ist?«
»Mir fiele da jemand ein, aber die ist tot«, sagte Menkhoff bitter. »Was glauben Sie, macht ihr die Vorstellung Angst, ihr Bruder könnte tatsächlich noch leben?«
»Ja. Vielleicht nicht immer, aber seit ihre Schwester … ihre Halbschwester so grauenvoll umgebracht worden ist, schon.«
»Wir wissen, dass …«, weiter kam Reithöfer nicht, denn sie wurde von der Türklingel unterbrochen. Wiebke Pfeiffer ging zur Haustür und kam kurze Zeit später gefolgt von Jörg Wiebking ins Wohnzimmer zurück.
»Ah, Herr Wiebking, wie wir hörten, galten sie schon als verschollen«, begrüßte Menkhoff ihn.
»Ja, ich habe gerade schon von Wiebke erfahren, dass nach mir gesucht wurde.« Er setzte sich auf den Platz, auf dem zuvor Wiebke Pfeiffer gesessen hatte.
»Und, wo waren Sie?«
»Ach, nirgendwo. Ich bin einfach mit dem Auto rumgefahren.« Es klang nicht so, als hätte er große Lust, darüber zu reden, was Menkhoff allerdings wenig interessierte. »Gab es denn dafür einen besonderen Grund?«
Wiebking wandte sich an Wiebke Pfeiffer, die neben ihm Platz genommen hatte. »Hast du vielleicht ein Bier für mich?«
»Ja, klar.« Sie stand wieder auf und ging in die Küche.
»Einen Grund? Nein, nichts Besonderes. Manchmal muss das sein, um den Kopf freizubekommen.«
»Ah, verstehe. Das ist beneidenswert. Nur die wenigsten können ihren Arbeitsplatz einfach so und ohne jemanden zu informieren verlassen, wenn ihnen danach ist. Ihr Vater scheint da zumindest auch noch etwas konservativer eingestellt zu sein.«
»Mein Vater«, es klang verächtlich. »Es ist mir egal, was mein Vater über irgendetwas denkt. Und vor allem, was er über mich denkt.«
»Kann es sein, dass Ihr Vater der Grund für Ihren Ausflug war, Herr Wiebking?«, fragte Reithöfer, als Wiebke Pfeiffer
Weitere Kostenlose Bücher