Der Schatten des Chamaeleons
kam. Die Physiotherapeuten meinten, das hätten Sie getan, weil Sie nicht angestarrt werden wollten.«
Acland schüttelte den Kopf.
»Sie haben selbst das Wort Monster gebraucht«, erinnerte Willis ihn.
»Nur um zu betonen, dass bei mir sonst alles in Ordnung ist. Diese Umgebung hier ist nichts für mich, Doc. Normalerweise laufe ich morgens nach dem Frühstück erst mal zehn Kilometer, und es macht mich wahnsinnig, wenn irgendeine blöde Tussi jauchzt und jubelt, nur weil ich es schaffe, eine läppische kleine Hantel mit einer Hand zu heben. Wissen Sie eigentlich, wie beschämend das ist? Der andere Patient war beinamputiert, und sie hat geklatscht wie der letzte Idiot, weil er drei Schritte hüpfen konnte. Der Mann hatte ein Regiment unter sich, verdammt noch mal.«
»Nick Hay«, sagte Willis zustimmend. »Er ist auf einem Ohr stocktaub, er hat also überhaupt keinen Gleichgewichtssinn mehr, da ist es für ihn eine Riesenleistung, aufrecht auf einem Bein zu stehen. Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Habe ich Ihnen doch schon erklärt. Was hätte ich denn sagen
sollen? He, nimm’s positiv, Kumpel, du hättest auch beide Beine verlieren können? Er weiß, was als Nächstes kommt: Ausmusterung aus medizinischen Gründen, danach monatelanges Klinkenputzen, um im zivilen Bereich eine Arbeit zu finden.«
»Haben Sie Angst, dass es Ihnen auch so ergehen wird?«
»Nein. Der Kommandeur hat versprochen, meine Rückkehr ins Regiment zu befürworten.« Er runzelte argwöhnisch die Stirn, als Willis zu seinen Aufzeichnungen hinunterblickte. »Oder haben Sie etwas anderes gehört?«
»Nur das Übliche. Dass Sie der medizinischen Kommission Ihre Eignung nachweisen müssen.«
»Das ist kein Problem.«
»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte Willis, und es klang aufrichtig.
Manchmal wachte Acland mitten in der Nacht auf und war sich sicher, dass es in seinen Wunden von Maden wimmelte. Als Kind hatte er erlebt, wie ein Schaf an der Fliegenmadenkrankheit verendet war, nachdem die Larven sich in das Fleisch des Tiers hineingefressen hatten. Das Bild hatte ihn bis heute nicht losgelassen. Sein Unterbewusstsein sagte ihm, die Maden würden von seinen Augen direkt ins Gehirn wandern, und wie ein Wahnsinniger fuhr er aus dem Schlaf und rieb die leere Augenhöhle, um die Schmerzkrämpfe einer neuen Migräne abzuwürgen. Aber solche Episoden behielt er für sich, weil er fürchtete, als paranoid diagnostiziert zu werden.
Er interpretierte Willis’ Bemerkungen über den gesellschaftlichen Rückzug als Warnung und zwang sich, mehr unter Menschen zu gehen und regelmäßig seine Eltern anzurufen. Abgesehen vom beifälligen Nicken des Psychiaters hatte er wenig davon, denn sein Interesse an anderen war gleich null. Es war eine harte Prüfung für ihn, Gespräche über Ehefrauen und Kinder zu ertragen, die ihm nichts bedeuteten. Oder den Daumen
in die Höhe zu strecken, wenn jemand einen Scherz machte, den er nicht lustig fand.
Zum Glück erwartete niemand, dass er lächelte. Er fand es merkwürdig, dass die Person, mit der er sprach, zu keiner Regung mehr fähig war, sobald sie sich seiner Behinderung erinnerte. Dann erstarrte das anfangs lebhafte Mienenspiel völlig. Ein- oder zweimal prüfte er in der Abgeschlossenheit seines Zimmers die Elastizität seines wiederhergestellten Gesichts und versuchte zu lächeln, aber die hässliche schiefe Grimasse sah mehr nach einem arroganten Hohnlächeln aus und drückte keinerlei Herzlichkeit aus.
Die Ärzte zeigten sich erfreut über seine Fortschritte, aber Acland selbst war nicht beeindruckt. Nach einem Zeitraum von vier Monaten, der gleichen Anzahl von Operationen und zwei längeren Erholungsaufenthalten - die er in einem Hotel in Birmingham zugebracht hatte, weil er nicht zu seinen Eltern gehen wollte - waren die leere Augenhöhle und die spitz zulaufende Narbe noch genauso hässlich verfärbt und unelastisch wie vorher.
Es fiel ihm leichter, überhaupt keine Gefühle zu zeigen, das spiegelte ehrlicher, was in ihm vorging; denn da ihm die Mittel zum Ausdruck von Freude oder Anteilnahme fehlten, schienen all die Gefühle, die nicht geäußert werden konnten, verkümmert zu sein.
4
Acland hatte, im Gegensatz zu dem, was er Willis gesagt hatte, Jen nicht vergessen. Genau wie ihm das Lächeln eines Pflegers einen seiner toten Kameraden ins Gedächtnis rief, konnte ihn die Art, wie eine Frau den Kopf herumwarf, an Jen erinnern. Dies war für ihn zwar
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