Der Schatten des Chamaeleons
nicht schmerzhaft wie der Gedanke an seine Männer, es versetzte ihm aber trotzdem einen Stich, den er hasste. Es war einer der Gründe, warum ihm männliche Pflegekräfte lieber waren.
Als es eines Freitagnachmittags im April bei ihm klopfte, glaubte er, es wäre der Putztrupp. Er stand am Fenster und beobachtete eine Frau, die einen Mann, dem man beide Beine abgenommen hatte, im Rollstuhl den Asphaltweg hinunterschob. Die beiden waren etwa im gleichen Alter, wahrscheinlich also ein Paar, dachte Acland, aber da keiner das Gesicht des anderen sehen konnte, verrieten ihre Mienen deutlich, wie ihnen zumute war. Beide wirkten unglücklich und deprimiert, und Acland hatte den Eindruck, dass nichts sie mehr verband.
»Charlie?«
Er erkannte ihre Stimme sofort und musste sich vor Schreck mit einer Hand am Fenster festhalten, um irgendwie Halt zu finden. Im ersten Moment glaubte er, wieder unter Schock zu stehen, aber dann merkte er, dass es Furcht war, die ihn zu überwältigen drohte. Er starrte weiter zum Fenster hinaus. »Was tust du hier?«
»Ich wollte dich sehen.«
»Warum?«
»Brauche ich denn einen Grund, Charlie?«, fragte sie mit rauchiger Stimme. »Ich wäre eher gekommen, wenn es nicht immer wieder geheißen hätte, dass du keinen Besuch wünschst.«
Er hatte Mühe zu sprechen. »Von wem stammt diese glänzende Idee? Dr. Willis?«
Sie wich der Frage aus. »Ich dachte, du würdest dich freuen.«
»Tu ich aber nicht. Daran, dass ich keinen Besuch will, hat sich nichts geändert. Sie hätten dir nicht sagen dürfen, wo ich bin. Gehst du jetzt freiwillig, oder muss ich erst jemanden rufen, um dich hinauswerfen zu lassen?«
»Dann lass mich wenigstens sagen, dass es mir leidtut.«
»Was tut dir leid?«
»Dass es so enden musste.«
»Kein Interesse. Sonst hätte ich deine Briefe gelesen.«
»Hast du sie bekommen?«, fragte sie stockend. »Als ich keine Antwort bekam, dachte ich, sie hielten sie hier im Krankenhaus vielleicht zurück, bis du dich wieder an alles erinnern kannst.«
»Na schön, jetzt weißt du Bescheid.«
» Bitte, Charlie.« Er hörte sie näher kommen. »Könnten wir nicht einen Tee zusammen trinken? Ich bin mit dem Zug gekommen, die Fahrt war endlos lang - und im Taxi hierher war es so stickig.«
»Hör auf, Jen.«
Sie seufzte. »Es wäre nicht passiert, wenn du nicht immer weggemusst hättest.«
»Kein Interesse«, wiederholte Acland, grimmig entschlossen, sich nicht in eines ihrer Spielchen mit gegenseitigen Schuldzuweisungen hineinziehen zu lassen.
Darauf folgte ein kurzes Schweigen. Als sie wieder sprach, war ihr Ton scharf. »Ich hätte dich anzeigen können. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Dann wärst du nicht in den Irak geschickt worden. Ich habe es mir ernsthaft überlegt.«
Er sah zu, wie unten der Amputierte seinen Rollstuhl abbremste, weil er nicht weitergeschoben werden wollte. »Ich wusste, dass du so dumm nicht sein würdest. Sogar ein hirntoter Idiot weiß, was gegenseitige Abschreckung bedeutet.«
Sie lachte dünn. »Nur war ich nicht Soldat und hätte aus der Armee rausfliegen können. Dafür wenigstens könntest du mir dankbar sein.«
Er schwieg.
Sie begann wieder, ihm schönzutun. »Ich weiß, wie schlecht es dir danach gegangen ist, Darling«, sagte sie in mitfühlendem Ton, »aber wenn ich bereit bin, es zu vergessen, können wir es dann nicht einfach auf sich beruhen lassen?«
Nein! Das war nicht Furcht, was er verspürte, es war Wut. Eine unglaubliche Wut. Sie überflutete ihn in einer riesigen Welle, und er wollte Jen nur noch die Hände um den Hals legen und zudrücken. »Du musst jetzt gehen«, sagte er, krampfhaft bemüht, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Ich empfinde seit Monaten nichts mehr, und daran wird sich auch nichts ändern, ganz gleich, was du sagst oder tust.«
»Du weißt genau, dass das nicht wahr ist.«
Er drehte sich zu ihr hin, so dass seine verwundete Seite zu sehen war. Jen war streng gekleidet, in hochgeschlossenes Marineblau, das bis unter die Knie reichte, und trug das Haar hinten hochgesteckt. Er spürte, wie sich ihm die feinen Härchen im Nacken sträubten. Schnell richtete er den Blick auf ihre Hände.
»Für dich«, sagte sie und zog die Spange aus ihrem Haar. »Weißt du noch, Gattaca ? Du hast immer gesagt, in Uniform gefalle Uma dir am besten.« Sie lächelte, als ihr blondes Haar auf ihre Schultern herabfiel. »Weckt das nicht schöne Erinnerungen?«
Er antwortete nicht.
Sie zog ein Gesicht. »Du
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