Der Schatten des Chamaeleons
nach Walter Tuttings Foto, als Acland nicht antwortete. »Womit hat Mr. Tutting Sie so rasend gemacht? Hat er Sie für homosexuell gehalten und einen Annäherungsversuch gemacht?«
Aclands Miene zeigte einen Anflug von Entrüstung. »Das ist ja absurd.«
»Wieso? Was stört Sie daran? Dass ein alter Mann homosexuell sein könnte oder dass er glauben könnte, Sie wären es?«
»Weder noch. Ich bin nur nicht so auf Sex fixiert, wie Sie das offenbar sind.«
Jones legte die Hände vor seinem Mund aneinander und musterte den jungen Mann neugierig. »Sie sind ja ein richtiger Puritaner.«
Acland runzelte verständnislos die Stirn. »Was haben meine persönlichen Ansichten mit Mr. Tutting zu tun? Er hat mich in den Rücken gestoßen, das ist alles.«
»Mich interessiert, was Sie so sehr gegen die Gesellschaft aufgebracht hat. Sind Sie nach Ihrer Heimkehr schlecht behandelt worden?«
»Nicht besonders, nein.«
»Was hat sich also verändert?«
»Ich habe mich verändert. Vieles kommt mir trivial vor - und es bedeutet mir nichts mehr.« Es schien ihm schwerzufallen, sich auszudrücken, als wäre es ihm fremd, über seine Überzeugungen zu sprechen.
»Und was ist von Bedeutung, Charles?«
»Das versuche ich noch herauszufinden. Ich lese gerade einen dänischen Philosophen namens Sören Kierkegaard. Der schreibt: ›Das Leben ist kein Problem, das man lösen muss, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren muss.‹ Das ist etwa der Umfang meines Verständnisses bisher.«
»Die Wirklichkeit kann ziemlich grausam sein.«
»Das hängt davon ab, was man aus ihr macht.«
Jones nickte. »Und die Liebe? Wo gehört die hin?«
Keine Antwort.
»Haben Sie Ihre Verlobte nicht geliebt, Charles? Wie ich höre, wohnt sie in London, und Sie haben sie letztes Jahr regelmäßig besucht. Wir brauchen ihren Namen und ihre Adresse.«
Das Gesicht des jüngeren Mannes verriet Erschrecken. »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Dr. Campbell.« Jones zog fragend eine Augenbraue hoch. »War das nicht in Ordnung? Wäre diese Information eigentlich vertraulich gewesen?«
Acland beugte sich vornüber und bearbeitete unter dem Tisch seine Hände. »Jen hat mit dieser Sache nichts zu tun. Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen.«
»Mit welcher Sache hat sie nichts zu tun, Charles?«
Schweigen.
»Wenn sie nicht in der Nähe von Mr. Tutting lebt, werden wir sie nicht belästigen, wenn aber doch -«, Jones ließ einen Moment des Schweigens verstreichen, »- wenn doch, werden wir vielleicht prüfen müssen, ob Sie schon früher einmal mit ihm zu tun hatten.«
»Das wüsste Jen sowieso nicht.«
»Können Ihre Eltern uns ihren Namen und ihre Adresse nennen? Oder Ihr Regiment?«
Feindseligkeit flammte in Aclands Auge auf. »Sie heißt Jen Morley und wohnt am Harris Walk, Peabody-Haus, Apartment eins - und wenn das irgendwo in der Nähe von Mr. Tutting
ist, dann ist das Zufall.« Er richtete sich auf und stemmte die Hände flach auf den Tisch, als wollte er aufstehen. »Warum tun Sie das? Habe ich denn überhaupt kein Mitspracherecht, mit wem Sie über meine Privatangelegenheiten sprechen dürfen?«
Der Superintendent breitete bedauernd die Hände aus. »Wenn ich einen unabhängigen Zeugen zur Bestätigung Ihrer Aussage brauche, nicht, nein.« Er hielt kurz inne. »Wenn Sie fürchten, Ms. Morley könnte etwas Nachteiliges über Sie sagen, wäre es vielleicht in Ihrem Interesse, sich einen Anwalt zu nehmen.«
Acland neigte den Kopf in den Nacken und starrte zur Zimmerdecke hinauf, während er mehrmals tief durch die Nase einatmete.
»Wir können jederzeit eine Pause machen, Charles. Vielleicht möchten Sie jetzt doch eine Tasse Tee?«
»Das ändert doch auch nichts.«
Stimmt, dachte Jones. »Hat Mr. Tutting mit seinem Gestupse Sie vielleicht so sehr geärgert, dass Sie ihm nach Hause gefolgt sind?«
»Blödsinn. Ihr Inspector hat doch gesagt, er sei auf der Straße zusammengebrochen. War das auch Lüge?«
Jones ließ die Frage unbeachtet. »Die Kollegen von der Gerichtsmedizin haben Blutflecken auf Ihrer Jacke, Ihrem Hemd und Ihrer Hose gefunden. Möchten Sie mir erklären, wie die dahingekommen sind?«
Aclands Feindseligkeit und Zorn waren jetzt beinahe greifbar. »Ich wusste , dass Sie mir etwas anhängen würden«, sagte er. »Sie sind noch korrupter als die Kameltreiber, die wir beschützen sollen. Die stoßen jedem das Messer in den Rücken, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen, aber wenigstens tun sie’s ganz
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