Der Schatten erhebt sich
Vielleicht könntest du dabei ebenfalls beobachten, wie ich die Ruhe bewahre. Du weißt ja, wie du wirst, wenn du überdreht bist.« Elayne mußte unwillkürlich lachen.
Die beiden Männer richteten sich auf, als sie und Nynaeve sich ihnen näherten. Um sie herum eilten die Seeleute, kletterten an der Takelage hoch, pullten Taue, zurrten einige Dinge fest und banden andere los, alles auf Befehl der Segelherrin. Sie bewegten sich um die Landbewohner herum, ohne sie weiter zu beachten.
Elayne blickte Thom Merrilin nachdenklich an. Sie war sicher, den Gaukler vor seinem Erscheinen im Stein noch nie gesehen zu haben, und doch kam ihr etwas an ihm so bekannt vor. Nicht sehr wahrscheinlich, aber... Gaukler traten vor allem in Dörfern auf. Ihre Mutter hatte ganz sicher nie einen im Palast in Caemlyn gehabt. Der einzige Gaukler, den gesehen zu haben sich Elayne erinnerte, war in einem Dorf in der Nähe der Landgüter ihrer Mutter aufgetreten, und dort war dieser weißhaarige Falke von einem Mann bestimmt nie gewesen.
Sie entschloß sich, zuerst mit dem Diebfänger zu sprechen. Auf dieser Bezeichnung bestand er, wie sie wohl wußte. Er war stolz darauf.
»Meister Sandar«, sagte sie ernst, »Ihr erinnert Euch vielleicht nicht mehr an uns. Ich bin Elayne Trakand, und das ist meine Freundin Nynaeve al'Meara. Wie ich hörte, wollt Ihr an dasselbe Ziel reisen wie wir. Dürfte ich den Grund erfahren? Als wir Euch das letzte Mal trafen, hattet Ihr uns nicht gerade gut gedient.« Der Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein Blick überflog ihre Hände, und er bemerkte die Abwesenheit der Ringe. Diesen dunklen Augen entging nichts, und er prägte sich jede Einzelheit genau ein. »Ich erinnere mich an Euch, Frau Trakand, und sogar sehr gut. Aber bitte vergebt mir, doch das letzte Mal, als ich Euch diente, war in Gesellschaft von Mat Cauthon, als wir Euch beide aus dem Wasser zogen, bevor die Hechte Euch anknabberten.« Nynaeve räusperte sich. Es war eine Zelle gewesen und nicht das Wasser, und statt der Hechte die Schwarzen Ajah. Besonders Nynaeve ließ sich nicht gern daran erinnern, daß sie damals Hilfe benötigt hatten. Natürlich hätten sie ohne Juilin Sandar gar nicht in dieser Zelle gesessen. Nein, das war nicht ganz gerade. Wahr, aber nicht gerecht.
»Das ist alles schön und gut«, sagte Elayne nun kurz angebunden, »aber Ihr habt immer noch nicht gesagt, warum Ihr nach Tanchico wollt.« Er atmete tief durch und musterte Nynaeve mißtrauisch. Elayne gefiel es gar nicht, daß er es nötig zu haben schien, der anderen Frau gegenüber vorsichtiger zu sein als ihr gegenüber. »Ich wurde vor noch nicht einmal einer halben Stunde aus meinem Haus getrieben«, sagte er vorsichtig, »und zwar von einem Mann, den Ihr kennt, wie ich glaube. Einem großen Mann mit steinernem Gesicht namens Lan.« Nynaeves Augenbrauen hoben sich leicht. »Er sprach für einen anderen Mann, den Ihr kennt, einen... Schafhirten, wie man mir sagte. Man gab mir einen Haufen Goldes und sagte mir, ich solle Euch begleiten. Euch beide. Man sagte mir auch, wenn Ihr nicht sicher von dieser Reise zurückkehrtet... Sagen wir einmal, es sei dann besser, wenn ich mich ertränke, anstatt zurückzukommen. Lan war da ganz eindeutig, und der... Schafhirte sagte in seiner Nachricht an mich praktisch das gleiche. Die Segelherrin sagte mir, ich könne nur mitkommen, wenn Ihr zustimmt. Ich habe aber doch gewisse Fähigkeiten, die Euch nützlich sein könnten.« Der Stab wirbelte in seinen Händen, pfiff blitzschnell durch die Luft und stand wieder still. Seine Finger berührten den Schwertbrecher an seiner Hüfte, der wie ein ungeschärftes Schwert wirkte, aber mit Schlitzen versehen war, in denen sich eine gegnerische Klinge verhaken sollte.
»Männer finden doch immer einen Weg, um sich um das herumzudrücken, was du ihnen gesagt hast«, knurrte Nynaeve, doch es klang nicht sehr böse.
Elayne runzelte nur etwas verwirrt die Stirn. Rand hatte ihn geschickt? Dann konnte er bestimmt den zweiten Brief vorher noch nicht gelesen haben. Seng ihn! Warum ist er so sprunghaft? Keine Zeit mehr, ihm noch einen Brief zu schicken, und der würde ihn vermutlich noch mehr verwirren. Und mich zu einer noch größeren Närrin machen. Seng ihn!
»Und Ihr, Meister Merrilin?« fragte Nynaeve. »Hat der Schafhirte uns auch noch einen Gaukler hinterhergesandt? Oder nur den anderen Mann? Vielleicht sollt Ihr uns nur mit Eurem Jonglieren und Feuerschlucken unterwegs unterhalten?«
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