Der Schatten erhebt sich
Nähere, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie ich an Lews Therins Seite kämpfte. Ich werde Moghediens Gesicht niemals vergessen, genausowenig wie das Asmodeans, des Mannes, den Ihr in Rhuidean beinahe aufgestört hättet.« Asmodean? Moghedien? Die Frau war eine der Verlorenen gewesen? Eine Verlorene in Tanchico. Und einer in Rhuidean, in der Wüste. Egwene hätte bestimmt etwas davon erwähnt, hätte sie davon gewußt. Keine Möglichkeit, sie zu warnen, jedenfalls nicht während der nächsten sieben Tage. Zorn - und Saidar - wallten in ihr auf. »Was tut Ihr hier? Ich weiß, daß Ihr alle verschwandet, nachdem Euch das Horn von Valere zurückgerufen hatte, aber Ihr seid...« Sie ließ die Worte verklingen, verlegen, weil sie etwas hatte sagen wollen, doch die andere Frau beendete gelassen den Satz für sie.
»Tot? Diejenigen von uns, die an das Rad gebunden sind, sind nicht auf die gleiche Weise tot wie andere. Welcher Ort wäre besser geeignet, um dort zu warten, bis das Rad uns in unsere neuen Leben verwebt, als hier in der Welt der Träume?« Plötzlich lachte Birgitte auf. »Ich fange schon an, wie ein Philosoph zu reden. In beinahe jedem Leben, an das ich mich erinnere, wurde ich als einfaches Mädchen geboren, das den Bogen erwählte. Ich bin eine Bogenschützin und nicht mehr.« »Ihr seid die Heldin in hundert Legenden«, sagte Nynaeve. »Und ich sah, was Eure Pfeile in Falme vollbrachten. Der Gebrauch der Macht durch die Seanchan hat Euch nicht berührt. Birgitte, wir stehen fast einem Dutzend Schwarzer Ajah gegenüber. Und wie es scheint, auch einer der Verlorenen. Wir könnten Eure Hilfe gebrauchen.« Die andere Frau verzog verlegen und bedauernd das Gesicht. »Ich kann nicht, Nynaeve. Ich kann die Welt des Fleisches nicht berühren, bevor das Horn mich wieder ruft. Oder bevor mich das Rad wieder neu verwebt. Wenn es das in diesem Augenblick täte, würdet Ihr lediglich ein Kleinkind vorfinden, das sich an die Mutterbrust drückt. Nach Falme hat uns das Horn gerufen, und wir waren nicht so wie Ihr dort, nicht fleischgeworden. Deshalb konnte uns die Macht nicht berühren. Hier ist alles ein Teil des Traums und die Eine Macht kann mich genauso leicht vernichten wie Euch. Noch leichter. Ich sagte Euch ja: Ich bin eine Bogenschützin und gelegentlich Soldatin, aber nicht mehr.« Ihr kunstvoll geflochtener goldener Zopf flog herum, als sie den Kopf schüttelte. »Ich weiß gar nicht, warum ich das alles erkläre. Ich sollte überhaupt nicht mit Euch sprechen.« »Warum nicht? Ihr habt doch auch zuvor schon mit mir gesprochen. Und auch Egwene glaubt, Euch gesehen zu haben. Das wart Ihr doch, oder?« Nynaeve runzelte die Stirn. »Woher kennt Ihr eigentlich meinen Namen? Wißt Ihr so etwas einfach?« »Ich weiß, was ich sehe und höre. Ich habe Euch beobachtet und gelauscht, wann immer ich Euch finden konnte. Euch und die anderen beiden Frauen, und den jungen Mann mit den Wölfen. Den Regeln nach dürfen wir mit niemandem sprechen, der sich bewußt in Tel'aran'rhiod befindet. Und doch geht das Böse genauso in den Träumen einher wie in der Welt des Fleisches. Ihr, die Ihr es bekämpft, zieht mich an. Obwohl ich weiß, daß ich fast nichts tun kann, stelle ich fest, daß ich Euch helfen möchte. Doch ich kann nicht. Es widerspricht allen Regeln, und diese Regeln haben mich so viele Drehungen des Rads über gebunden, daß ich selbst in meinen ältesten, verblaßten Erinnerungen noch die Erinnerungen an hundert, an tausend frühere Leben spüre. Mit Euch zu sprechen heißt bereits, Regeln zu brechen, die ebenso binden wie Gesetze.« »Das stimmt«, sagte eine harte männliche Stimme.
Nynaeve fuhr zusammen und hätte beinahe mit der Macht losgeschlagen. Der Mann war dunkelhäutig und hatte kräftige Muskeln. Über seine Schultern ragten die langen, schmalen Griffe zweier Schwerter hinaus. Er schritt schnell von dem Fleck, an dem er aufgetaucht war, zu Birgitte herüber. Nach allem, was ihr Birgitte erzählt hatte, war ihr durch die zwei Schwerter klar, daß es sich um Gaidal Cain handeln mußte, doch wo die goldhaarige Birgitte mit dem ebenmäßigen Gesicht so schön war, wie in den Legenden beschrieben, war das Cain gewiß nicht. Er war tatsächlich so häßlich, wie ein Mann nur sein konnte, mit seinen breiten, platten Gesichtszügen, der übergroßen, flachen Nase und dem viel zu breiten Mund. Doch Birgitte lächelte ihn an. Wie sie seine Wange berührte, das zeigte mehr als nur Freundschaft. Es war
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