Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
überschäumenden Wesen, das soweit alle Wechselfälle der Belagerung überstanden hatte. Galveron warf einen Blick über die Schulter und brauchte nur die grauen Gesichter zu sehen, um zu wissen, dass jeder bis zum Äußersten angespannt war und sich wie er hatte täuschen lassen. »Wenigstens wissen wir jetzt, dass mit unseren Reflexen noch alles in Ordnung ist«, sagte er lakonisch. »Und jetzt los, bevor die echten wach werden.«
Sobald sie sich außerhalb des schweren Portals befanden, fühlte Galveron sich entsetzlich ungeschützt. Auf den oberen Stufen der Tempeltreppe hielten sie inne. Zwischen den Häusern des Heiligen Bezirks und am Himmel schien sich nichts zu bewegen. Aber Galveron schlug das Herz bis zum Hals, er war auf dem Sprung, zu kämpfen oder zu fliehen, und zwischen den Schulterblättern verspürte er ein Kribbeln, als starre ihn jemand feindselig an.
Der Tempelhof bot ein Bild des Grauens, das über ihre finstersten Ahnungen hinausging. Wohin man auch blickte, lagen aufgeblähte, verwesende Leichen, die Augen von Ratten und Vögeln gefressen, die aufgerissenen Bäuche ausgeweidet, Glieder und Gesichter abgenagt. Der Gestank, der schon begonnen hatte, in die Basilika einzudringen, war überwältigend. Die Krähen ließen sich von neuem nieder und nahmen ihr Mahl wieder auf. Überall war Herumgehüpfe und verstohlenes Geflatter. Das Ungeziefer der Stadt hatte dieselbe magere Zeit erlebt wie ihre menschlichen Bewohner. Jetzt waren alle Ratten von Tiarond im Heiligen Bezirk zusammengelaufen, um sich an dieser unerwarteten Gabe zu weiden.
»Das ist das Beste, was uns passieren kann«, vermerkte eine ruhige Stimme über Galverons Schulter hinweg. Es war Shelon, Kaitas Gehilfe, der den makabren Anblick kühl bewertete. »Inzwischen sind die Toten eine wirkliche Gefahr für die Lebenden«, fuhr der Heiler fort. »Bei so viel Verwesung wächst die Gefahr von Krankheiten stündlich. Wir können dankbar sein, dass es Winter ist, sodass wir von Fliegen verschont bleiben, aber je eher die Aasfresser die Leichen weggeputzt haben, desto besser für uns alle.«
Er hatte natürlich Recht, aber das machte es niemandem leichter. Bis sie sich einen Weg durch den Morast des Verfalls gebahnt hatten, hatte jeder der Gottesschwerter, erfahrene Krieger alle, seinen Mageninhalt vollständig entleert. Areom, grauhäutig und zittrig, sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Nur Shelon gab sich vergleichsweise unberührt. Doch Galveron bemerkte sehr wohl die angespannten Kiefermuskeln und den feinen Schweißfilm auf seiner Stirn.
Das Haus der Heilung war ein Scherbenhaufen aus zerschmetterten Fenstern und Türen. Betten waren umgeworfen, Laken und Decken zerrissen und weit verstreut. Shelon machte ein besorgtes Gesicht. »Wollen wir hoffen, dass sie nicht an unsere Arzneien herangekommen sind«, sagte er leise. Doch wie sich herausstellte, hätte er sich darum nicht zu sorgen brauchen. Die Salben, Kräuter und Säfte waren immer in einer gut verriegelten Kammer eingeschlossen, da viele Stoffe sehr gefährlich, schwer zu bekommen oder schwierig herzustellen waren. Die Tür und die Fensterläden hatten dem Sturm der Eindringlinge standgehalten. Shelon fand den Schlüssel genau an der Stelle, die Kaita ihm benannt hatte, und war im Nu dabei, zwei Säcke und einen großen Rucksack zu füllen, wobei er sorgfältig die Posten auf seiner Liste abhakte. Die Soldaten hatten sich an verschiedenen Punkten des Gebäudes aufgestellt, wo sie nach allen Richtungen Ausschau halten konnten, während Areom und zwei verbliebene Soldaten Verbände und Bestecke zusammenpackten. Die Arbeit wurde schnell und umsichtig ausgeführt. Niemand wollte unnötig verweilen, da sie jeden Augenblick einen Angriff erwarteten.
So weit schien Galverons Vorhaben erfolgreich zu sein. Die Wolken standen leidlich hoch am Himmel, das Licht war gut, und es gab kein Anzeichen des Feindes. Lieber Myrial, lass unser Glück andauern, flehte Galveron, als er die kleine Schar zurück über das Schlachtfeld führte, das einmal der Vorhof zum Tempel gewesen war. Sie mussten an der Basilika vorbei und zur Zitadelle am anderen Ende des Platzes. Nur Shelon wurde mit der unschätzbaren Beute aus dem Haus der Heilung hastig in Sicherheit und zu Kaita geschickt. Der Hauptmann hatte nicht die Absicht, einen seiner kostbaren Heiler länger als nötig einer Gefahr auszusetzen, und Shelon erhob keine Einwände, den Trupp zu verlassen.
Auf das vereinbarte
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