Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
unsichtbaren Mantel zusätzlichen Mut. Nicht dass sie seinetwegen unnötige Wagnisse eingehen wollte, doch schien sie sich damit noch leiser und verstohlener als sonst bewegen zu können.
Der Wind trug das Gekreisch vom Dach heran, wo sich die Teufel um das Futter stritten.
Lass es einen der ihren sein, den sie da zerfleischen, oder sogar den armen Tosel. Bitte, lass es nur nicht meinen Bruder sein.
Aber sie durfte sich jetzt nicht erlauben, an Alestan zu denken. Das wäre eine Ablenkung, die sie selbst das Leben kosten konnte. Es würde Morgen werden, ehe sie erfuhr, ob er unversehrt war. Sie musste sich zwingen, diese Nacht hinter sich zu bringen und auf sich selbst Acht zu geben, anstatt um ihn zu zittern.
Ohne einen Zwischenfall erreichte Aliana den Torbogen und fühlte Hoffnung in sich aufsteigen. An die Mauer gedrückt spähte sie auf den Tempelplatz hinaus – und hielt entsetzt den Atem an.
Nur ein paar Bestien, die vielleicht um die Zitadelle herumgelungert hatten, waren von dem Geschehen auf dem Dach angelockt worden, aber die übrigen befanden sich hier unten. Wohin sie auch sah, hockten finstere Gestalten wie Geier auf den Haufen gefrorener Leichen. Helle Lampen brannten in den schmalen Fenstern des Tempels, vermutlich um das lichtscheue Pack davon abzuhalten, zu dicht an das Gebäude heranzukommen. Der beleuchtete Schnee in dem diffusen Lichtkreis genügte ihr, um zu erkennen, dass sich die Ungeheuer einer garstigen Orgie hingaben. Sie waren überall, zu Hunderten saßen sie da, und ab und zu sah Aliana ihre wilden Augen vom Lampenschein rot aufblitzten. Ständig hob eines den Kopf von seinem schaurigen Mahl und blickte rings über den Platz mit diesen stechenden Augen, die, wie Aliana genau wusste, im Dunklen nur zu gut sehen konnten.
Eine kalte Hand griff ihr ums Herz.
Das schaffe ich nicht! Ich wage es nicht! Ich muss umkehren.
Sie sah an der Fassade des Tempels hinauf. Weit oben drängten sich die schwarzen Gestalten um die zerbrochenen Fenster. Wenn sie jetzt umkehrte, würden die Eingeschlossenen kaum die Nacht überleben. Und wenn sie versagte, würde Galveron sie und ihre Freunde hinauswerfen und ihrem Schicksal überlassen.
Das würde er nicht tun!
Was soll ihn davon abhalten? Er hat nur versprochen, uns zu schützen, wenn ich das Sprengpulver in den Tempel bringe.
Aber ich habe es immerhin versucht. Das sollte doch etwas gelten.
Sei nicht albern. Er ist ein Soldat der verdammten Gottesschwerter. Keinem von denen kann man trauen.
Im Grunde wusste sie, dass sie dieser verächtlichen Stimme folgen musste. Sie hatte ihre Seite der Abmachung zu erfüllen. Das allein würde ihr die Gewissheit geben, dass Galveron sein Wort ebenfalls halten würde.
Aliana schluckte mühsam. Es gab nur einen Weg, wie sie den Platz – vielleicht – ungesehen überqueren könnte, und der Gedanke daran, drohte ihr den Magen umzudrehen. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie löste ihren Dolch vom Gürtel und schnallte sich die Scheide um den Arm, wo sie schneller hingreifen konnte, ohne sich im Mantel zu verheddern. Dann zog sie sich die widerliche Kapuze tief ins Gesicht und begann auf Händen und Knien zu kriechen.
Sie hielt sich dicht am Boden, schob sich Zoll um Zoll mit gewissenhafter Vorsicht den gewundenen Weg zwischen den Leichenhaufen hindurch. Wenn sie trotz Packrats Tarnung zu sehen war, so hoffte sie für eine der Leichen gehalten zu werden. Hoffentlich würde auch der wirbelnde Schnee ihre Bewegungen verwischen und keine der Bestien ihr so nahe kommen, dass sie die lebendige Beute zwischen ihren gefrorenen Vorräten bemerkte – so betete sie.
Es würde ewig dauern, zum anderen Ende des Platzes zu gelangen. Dabei war es lebensnotwendig, dicht bei der Mauer zu bleiben, wo es dunkel war und Schneewehen lagen, auch wenn dies den längeren Weg bedeutete. Sie würde an der Hofmauer entlang und dann nach rechts kriechen, um der Fassade der Basilika zu folgen. Sie haderte damit, dass es zusätzliche Zeit kostete, denn die Gefahr für die Menschen im Tempel wuchs mit jeder Verzögerung. Gleichwohl war das ihre letzte Sorge. Wenn sie zu lange brauchte, würde die Kälte ein ebenso tödlicher Feind werden wie die geflügelten Ungeheuer, denn sie bewegte sich viel zu langsam, um dabei warm zu bleiben. Dass sie dicht über den eisigen Boden kroch, tat sein Übriges. Schon nach kurzem begann sie zu frieren, trotz der warmen Kleidung und des zusätzlichen Mantels. Die Hose war rund um die Knie
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