Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
sich wirklich nur über eines Sorgen machen: ob wir in den Tunneleingang hineingelangen können oder nicht, denn der Wasserfall ist stark angewachsen. Scall und ich werden gleich nachsehen, und wenn der Tunnel nicht erreichbar ist, können wir den Weg nicht nehmen, und mehr ist dazu nicht zu sagen. Komm, Scall, wir wollen uns die Sache anschauen. Wir können nicht den ganzen Tag hier herumstehen.«
Er wandte sich noch einmal den anderen zu, die sich wie ein verlorener Haufen zusammendrängten und sich gegen den Nieselregen in die dicken Soldatenmäntel kauerten, die sie im Lager des Wachhauses gefunden hatten. »Denkt daran, dass diese verfluchten Ungeheuer noch immer in der Stadt sind«, sagte Tormon. »Bevor sie daran denken, weiter draußen zu jagen, wollen wir fort sein. Lasst die Pferde im Stall, bis wir sie brauchen. Ihr solltet ebenfalls ins Haus gehen, denn es gibt keinen Grund, im Regen stehen zu bleiben – nur einer muss draußen bleiben und Wache halten. Haltet sorgfältig die Augen auf, und wenn ihr etwas am Himmel seht, das größer als ein Sperling ist, verrammelt die Fenster und die Türen. Rochalla, kannst du auf Annas aufpassen, bis wir zurück sind?«
»Natürlich.« Rochalla, die in einem Mantel versank, der für einen doppelt so großen Menschen gemacht war, lächelte Annas an und nahm sie bei der Hand. »Ich bin sicher, wir werden ein oder zwei Spiele finden, um uns die Zeit zu vertreiben.«
So gingen Scall und Tormon die Straße hinab, die man vor undenklichen Zeiten von Hand in den Fels gehauen hatte, welcher links neben ihnen verlief und einen Überhang bildete. Dort waren sie ein wenig vor dem Regen geschützt, der gerade wieder zunahm. Der Furcht erregende Abgrund, der gnädigerweise in Wolken und Dunst verschwand, befand sich zur Rechten, und auf dieser Seite war die Straße von einer schulterhohen Mauer begrenzt. Sie verschaffte Scall eine gewisse Beruhigung, bis er bemerkte, dass der Mörtel zwischen den Steinen bröckelig und stellenweise ausgewaschen war. Er setzte wenig Vertrauen in ihre Festigkeit, sollte er ausrutschen und dagegen fallen. Wenn das alles sein sollte, was zwischen ihm und dem sicheren Tod stand, so war der Abstieg eine äußerst gewagte Sache. Voraus nahm der Wasserfall das gesamte Blickfeld ein, und er erschien noch größer und abschreckender als von oben gesehen. Bei jedem Schritt wurde das Donnern lauter und wummerte in Scalls Kopf, sodass er sich allmählich benommen fühlte.
Obwohl das Wasser auf der Straße nicht allzu tief war, hatte Scall Mühe, sicher Tritt zu fassen, da es schnell bergab floss. Er und Tormon rutschten und schlitterten über das Gefälle. Sie mussten sich jeder auf einen neuen Stab stützen, der sich zuvor eines Daseins als Lanze erfreut hatte. Presvel hatte die Waffen am frühen Morgen in der Baracke gefunden, wo sie in einer Ecke lehnten, und hatte vorgeschlagen, die Spitzen abzuschneiden und Wanderstäbe daraus zu machen. »Auf keinen Fall«, hatte Tormon gebrummt. »Ich werde auf keine einzige Waffe verzichten, die mir in die Hand fällt. Sie werden ebenso gute Wanderstäbe abgeben, wenn die Spitze dran bleibt, und wir könnten noch einmal froh sein, dass wir sie haben, bevor wir aus dem Gröbsten raus sind.«
Scall schüttelte den Kopf, als er daran dachte. Diese Stubenhocker aus der Stadt hatten wenig praktischen Verstand. (Bequemerweise vergaß er dabei, dass er bis vor ein paar Tagen ebenfalls sein Leben innerhalb der Mauern Tiaronds verbracht hatte.) Es war doch eine gute Sache, dass die Gruppe zwei praktische Männer bei sich hatte, nämlich Tormon und ihn selbst.
Inzwischen war bei dem Tosen keine Unterhaltung mehr möglich, was Scall nicht weiter störte. Gleich nachdem sie den Abstieg angetreten hatten, war er schon von dem feinen Nieselregen, der in der Luft hing, gründlich durchnässt. Als sie sich nun dem weißen Wasserschwall näherten, tropfte es ihm aus Haaren und Kleidern. Ein kalter Wind erhob sich durch die Bewegung der herabstürzenden Massen und wehte immer heftiger.
Scall verzagte beim Anblick dieser entfesselten Kräfte. Wenn es ihn hinabspülte, würde er so mühelos zu Matsch werden, wie er ein Insekt zerquetschen konnte.
Wie weit müssen wir überhaupt noch gehen? Wenn wir den Tunnel nicht bald erreichen, werden wir unterhalb des Wasserfalls unser Ende finden.
Über Monate hinweg floss nun schon der Regen über die Ebene und hatte den Wasserfall verbreitert, bis er über den Eingang des Tunnels
Weitere Kostenlose Bücher