Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
nicht zürnst, warum muss mein Volk leiden? Warum strafst du sie und mich?«
Das ist die Frage.
»Du wirst nicht bestraft, Zavahl.«
»Aber warum der endlose Regen? Ist er nicht die Folge meiner Verfehlungen? Meines Versagens?«
Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte der Drache jetzt den Kopf geschüttelt. Es fiel ihm schwer, mit einem Mann geduldig zu sein, der lediglich an der aufgeblasenen Vorstellung seiner eigenen Wichtigkeit litt. Wenn ein Einzelner sich solche Macht anmaßte, führte dies zu entsprechend großen Schuldgefühlen, wenn der Erfolg ausblieb. »Dein Fehler lag darin, Hauptmann Blank zu vertrauen«, sagte Aethon. »Während du mit dir selbst, deiner Reinheit und Frömmigkeit beschäftigt warst, hast du ihm die Macht auf einer Platte serviert.«
»Großer Myrial, ich bin es nicht wert …«
»Ach, sei still, Zavahl«, fuhr Aethon ihn an, »jeder Mensch lädt im Lauf seines Lebens irgendeine Schuld auf sich, begeht gewisse Torheiten. Solange du es dir nicht zur Gewohnheit werden lässt, können die Folgen zu gegebener Zeit berichtigt werden.«
»O Gnadenreicher, welche Buße kann ich …«
Endlich! »Komm mit mir in den Tempel, Zavahl, dort werden wir unser Gespräch fortsetzen.«
Die Frau in der prachtvollen Robe, die den Platz des Hierarchen eingenommen hatte, war von der Treppe verschwunden, und Zavahl und sein Gott konnten ungehindert in den Tempel gelangen. Aethon war neugierig auf das Innere des von Menschhand geschaffenen Gebäudes und folgte dem träumenden Bewusstsein seines Wirtes durch das Portal in den dämmrigen Raum, der – welch unerwartetes Entzücken – verschwenderisch mit Edelsteinen geschmückt war.
Das Drachenvolk, dessen Sprache aus Musik und reinen, strahlenden Farben bestand, liebte Juwelen, da sie in so schönen Farben leuchteten und schimmerten wie ein lebendiges Wesen. Tief in Aethons Gedächtnis, wo die Erinnerungen seiner gesamten Art schlummerten, gab es Bilder von Dhiammara, der Stadt, die aus einem kolossalen Edelstein gehauen war und in der Mitte einer blendenden Edelsteinwüste stand. Sie befand sich auf der Heimatwelt der Drachen, der sie ursprünglich entstammten.
Aethon war überwältigt vom Reichtum der Basilika und ein wenig erstaunt, dass Menschen solche Schönheit hervorzubringen vermochten. Edelsteinmosaiken schmückten die doppelten Säulenreihen, die durch die Mitte führten; Wandteppiche, mit Gold und Edelsteinen bestickt, hingen in regelmäßigen Abständen an den kalten Mauern, und das Licht von den unzähligen Lampen, die wie eine Galaxie in dem hohen Deckengewölbe strahlten, verwandelten sie in ein loderndes Farbenspiel.
Doch die Faszination dieses Ortes ging tiefer. Aethons Begeisterung entsprang nicht allein seiner Wertschätzung der Kunst. Die glühenden Farben schienen ein sinnträchtiges Muster zu bilden, das ihm in der Drachensprache etwas mitteilen wollte, eine Botschaft, die sein Verständnis überstieg.
»Heiliger Myrial?« Der einstige Hierarch stand neben einer Wand aus einem silbernen Filigran. Nach seiner Unruhe und der angespannten Miene zu schließen, musste etwas sehr Wichtiges dahinter verborgen liegen.
Aethon schluckte den Ärger hinunter, dass er von der geheimen Botschaft der Edelsteine abgelenkt wurde, und schob seine Verwirrung beiseite. »Du willst mich etwas fragen, mein Diener?«
Zavahl schlug die Augen nieder und begann mit zittriger Stimme, aber dennoch herausfordernd zu sprechen. »Warum hast du aufgehört, mit mir zu sprechen? Warum hast du dein Antlitz von mir abgewandt? Warum ist dein Auge dunkel und still geworden?« Nun, da er genügend Mut zusammengerafft hatte, um seinen Gott zu fragen, sprudelten die Worte aus ihm heraus.
Der Drache fühlte eine kopflose Angst in sich aufsteigen. Seine Verkörperung von Myrial, die ihm als guter Einfall erschienen war, lief Gefahr, entlarvt zu werden.
Sprechen? Auge? Was in aller Welt meint der verrückte Mensch?
Dann fiel ihm Zavahls Traum wieder ein, der in ihm die leise Ahnung erzeugt hatte, dass unter dem Tempel ein Geheimnis lag. Da war auch etwas mit einem Auge gewesen, aber die Einzelheiten waren nebulös geblieben und Zavahls Verwirrung und Qual hatten die Bedeutung verdunkelt. Aethon befiel erneute Erregung. Wenn dort wirklich etwas mit Zavahl gesprochen hatte, etwas, das er als die Erscheinung seines Gottes ansah, hatte er dann, ohne es zu begreifen, einen Weg gefunden, um die künstliche Intelligenz anzuzapfen, die seine Welt im Gleichgewicht
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