Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Elion merkte verwundert, dass es ihn nicht im mindestens störte. Ihre vorige Erscheinungsweise, die sich mit dem leuchtend roten, dann violetten Haar hervorgetan hatte, bewirkte, dass er die Gestaltwandlerin mit ganz anderen Augen sah, und seit er sie besser kannte, fand er sie gar nicht mehr befremdlich oder gar beängstigend. Mehr noch, er entdeckte, dass er sie sehr mochte und war froh, sie während eines so gefährlichen Auftrags an seiner Seite zu haben.
Da die Mitwirkung der Takur Khers kleine Gruppe nahezu überflüssig machte, hatte Amaurn dessen Leute bis auf zwei nach Gendival zurückgeschickt. Durch die umwälzenden Ereignisse waren sie an Wissenshütern inzwischen so knapp, dass es unverantwortlich wäre, mehr als unbedingt nötig dieser Gefahr auszusetzen. Wenn Vifang versagte, dann würden ein paar Kämpfer mehr auch keinen Erfolg bringen. Elion vermutete, dass Amaurn die Krieger zunächst nur mitgenommen hatte, um die eher rückständig denkenden Mitglieder des Schattenbundes zu beruhigen, die anscheinend nicht einsehen konnten, dass bei einem solchen Unternehmen nur die Fähigkeiten, nicht die Anzahl entscheidend war. Die beiden verbliebenen Wissenshüter in Khers Gruppe waren Partnerinnen. Alsive und Elysa waren im Kampf sehr beschlagen, aber auch begabt in den Handwerkskünsten und der Geschichtswissenschaft und hatten besonders die Sprengstoffe und Waffen der fernen Vergangenheit erforscht. Sie waren ein ungleiches Paar – Alsive klein und dunkel, eher rundlich und von aufbrausender Lebhaftigkeit, Elysa dagegen blond, gertenschlank und träge, aber wenn es hart auf hart kam, eine tödliche Kämpferin.
Während die kleine Gruppe durch die Straßen schlich, war Elion auch um diese beiden zusätzlichen Kämpfer sehr froh. Die verlassene Stadt wirkte schaurig, die leeren Straßen waren schlüpfrig nass vom Schneeregen, und er wünschte sich sehr, auch so einen geheimen Feuerwerfer zu haben, wie Kher ihn an einem Riemen über der Schulter trug. Auf der ganzen Welt gab es nur zwei Stück davon, und wie die meisten jungen Wissenshüter unter Cergorns Herrschaft hatte auch Elion von Zeit zu Zeit einen aus dem Museum für Früh- und Urgeschichte geschmuggelt und an einem einsamen Ort damit ein bisschen schießen geübt.
Ich bin ein ebenso guter Schütze wie er, und er braucht eine Hand für seinen Stock. Warum hat gerade er sie?
Aber Kher hatte die Waffe von Amaurn bekommen, weil er an Gendivals zusammenbrechender Grenze Streife geritten war. Er war bestimmt nicht geneigt, sie jetzt abzugeben, ganz gleich wie sehr Elion schmeicheln oder betteln würde, ein Versuch hätte also gar keinen Zweck. Es hätte auch keinen Zweck, sich den zweiten zu wünschen, denn Amaurns Gruppe hatte ihn in die Tunnel unter der Stadt mitgenommen.
Elion ermahnte sich ernsthaft, sich nicht nach Dingen zu sehnen, die er nicht haben konnte, sondern lieber auf seine Umgebung zu achten. Die Stadt bot ein unerwartetes Bild. Da jedermann im heiligen Bezirk gewesen war, als die Bestien angriffen, lagen keine verstümmelten Leichen auf dem Weg, und dafür war Elion zutiefst dankbar. Es sah eher aus, als habe die gesamte Bevölkerung ihre Koffer gepackt und wäre weggezogen. Man konnte sich fast vormachen, sie wären geflohen – bis ein Luftwirbel einen Hauch von der Oberstadt herantrug, der den widerwärtigen Gestank der Verwesung mitbrachte.
Obwohl alles verlassen wirkte, konnte Elion das Gefühl nicht abschütteln, von feindlichen Blicken beobachtet zu werden. Immer wieder drehte er sich hastig um, weil er meinte, ein Gesicht oder eine dunkle Gestalt in einem Fenster gesehen zu haben, doch dann war es nur ein Vorhang, der im Wind wehte, eine abgestorbene Pflanze auf einem Fenstersims oder auch gar nichts. Er dankte der Vorsehung, dass es Tag war. Sogar jetzt war die Bedrohung spürbar. Jeder unerwartete Laut ließ die Wissenshüter zusammenfahren und erstarren, und sie waren verwundert, wie viele verschiedene Geräusche an einem so verlassenen Ort entstehen konnten: das Flüstern des Windes, die rauen Schreie der Aasvögel, das Klappern loser Dachziegel, und das Knacken von Holztüren und Bodendielen. Das Scharren und Kratzen in den Häusern zeigte an, dass es zumindest den Ratten gut ging.
Während die Wissenshüter zum heiligen Bezirk hinauf schlichen, fiel ihnen auf, dass der Verfall Tiaronds bereits eingesetzt hatte. Fehlende Dachziegel, zerbrochene Fensterscheiben, losgerissene Fensterläden, die quietschend in einer Angel
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