Der Schattenjäger (German Edition)
euch beide sicher nach Hause bringen, ehe eure Mütter noch die Polizei rufen.«
»Ich kann auch zu Fuß gehen«, sagte Sascha hastig. »Ist doch nur ein paar Häuserblocks von hier.«
Wolf sah Sascha ungläubig an, sagte aber nur: »Ich wollte sowieso noch mit dir reden. Fahren wir Lily nach Hause und plaudern wir noch ein bisschen, bis ich dich heil wieder abliefere.« Lily, das war nicht zu übersehen, verzehrte sich vor Neugier – Sascha würde ihr Montag eine Geschichte präsentieren müssen.
»Shen hat mir von deiner kleinen absurden Komödie erzählt«, sagte Wolf, kaum dass sich die Haustür hinter Lily geschlossen hatte und die Droschke wieder anfuhr. »Ich hätte gedacht, Shen wüsste es eigentlich besser und würde sich nicht für so einen Unfug hergeben.«
»Das ist kein Unfug!«, protestierte Sascha. »Ich könnte nicht jeden Tag mit Lily zum Dienst gehen, wenn sie wüsste, dass ich eigentlich arm bin. Das könnte ich nicht ertragen! Ich müsste den Dienst quittieren!«
»Das ist Lily gegenüber sehr unfair, Sascha. Sie gehört nicht zu den Mädchen, die einen jungen Mann von oben herab behandeln, bloß weil er nicht so reich ist wie sie.«
»Nein, das nicht. Aber sie würde mich
bemitleiden
.«
Wolf sah ihn aus großen Augen an. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Nun, ich werde dein Geheimnis nicht verraten. Aber Shen hätte dich ins Gebet nehmen sollen.« Er schnaubte missbilligend. »Dir ist hoffentlich klar, dass der Inquisitionsabteilung horrende Fahrtkosten entstanden sind, nur damit dein kleines Geheimnis bewahrt bleibt? Du kannst es wiedergutmachen, indem du noch heute Abend zu Moische Schlosky hochgehst und mit ihm sprichst.«
Sascha dachte an das Schattenwesen und ihn schauderte. »Das hatte ich eh vor.«
»Hervorragend«, sagte Wolf aufmunternd. Und dann klopfte er an die Tür der Droschke, dass der Kutscher an den Straßenrand fuhr und hielt. Wolf stieg aus, bezahlte die Weiterfahrt bis zur Hester Street und eilte mit beschmutzten Mantelzipfeln davon.
Als die Droschke wieder anfuhr, sah sich Sascha neugierig um und fragte sich, wohin Wolf jetzt wohl ging. Vermutlich wohnte Wolf nicht hier in der Nähe, sondern war nur in der Hoffnung ausgestiegen, Meyer Minsky in einem der halb legalen Glücksspielklubs anzutreffen. Sascha wunderte sich, dass er nun schon so lange für Wolf arbeitete, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wo sein Vorgesetzter wohl wohnte.
Bei seiner Ankunft in der Hester Street eilte Sascha gleich an seiner elterlichen Wohnung vorbei und stieg weiter in den sechsten Stock zum Sitz der Industriellen Magischen Werktätigen. Einige Mitglieder arbeiteten noch, aber kein Moische. Sascha seufzte, ging unverrichteter Dinge wieder einen Stock tiefer und musste am folgenden Tag mit Moische reden.
Es war spät geworden, die Sabbatkerzen waren runtergebrannt und das Abendessen schon längst abgeräumt. Die Mehrheit der Angehörigen beider Familien, die sich die Wohnung teilten, saß in der Wohnküche der Kesslers. Ihre Untermieter, Mr und Mrs Lehrer, feierten gewöhnlich den Sabbatabend mit ihnen. Selbstverständlich ruhte die Arbeit im Schneideratelier, das die Lehrers im Hinterzimmer der Wohnung betrieben, bis zum Sonnenuntergang des folgenden Samstags. Und so hatten sich Saschas Vater und sein Großvater in die Stille des Hinterzimmers zurückgezogen. Sie saßen dort auf Haufen halb fertiger Konfektionsware und lasen die Thora-Abschnitte für die morgige Lesung.
Nur an den Sabbatabenden sah Sascha, dass sein Vater der Sohn eines Rabbi war. An allen anderen Tagen schuftete Mr Kessler zwölf Stunden in den Docks der East Side und kam abends so müde heim, dass er nur noch einen raschen Blick in die Zeitung warf und dann ins Bett taumelte. Doch am Sabbatabend riss er sich zusammen. Auch Onkel Mordechai. Der kam pünktlich zum Abendessen und blieb, bis er den Aufbruch zum Theater wirklich nicht mehr hinauszögern konnte. Das eine Mal, als Mr Kessler ihn bat am Sabbatabend die Thora zu lesen, hatte Mordechai erwidert, lieber würde er sich das Gesicht anmalen und wie ein Wilder um ein Feuer tanzen. Mit anderen Worten, Mordechais Sinn für Familienpflichten waren enge Grenzen gesetzt.
Rabbi Kessler und Saschas Vater hoben beide die Augenbrauen, als Sascha eintrat. Und beide freuten sich so sehr, dass der Junge sich für seine Verspätung nur noch mehr schämte. »Ich esse nur einen schnellen Bissen«, murmelte er, schon auf dem Weg in die Küche.
»Du bist im
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