Der Schattenjäger (German Edition)
Moment, um ihre Fassung wiederzuerlangen. »Mit dem Ruhm«, fuhr sie fort, »wurde er ein anderer Mensch. Er dachte nur noch an die Kritiken und seine Bewunderer, er dachte an alles, nur nicht an die Musik. Dabei ging es ihm vorher nur um sie. Er liebte sie aufrichtig und demütig. Und mich liebte er auch, bei all seinen Schwächen, er liebte mich. Dann schlich er sich nachts fort wie ein Dieb, der von ehrlichen Leuten nicht gesehen werden will. Und mit einem Mal hatte er Erfolg, er wurde ein berühmter Klezmermusiker. Trotzdem ging er weiterhin seiner anderen Arbeit nach, heimlich, wenn die Konzerte zu Ende waren. Ich fragte ihn,
›wohin gehst du?‹,
aber er antwortete nicht. Ich flehte ihn an, aufzuhören, aber da wurde er nur zornig. Er sagte,
›das geht dich gar nichts an‹
– so hat er mit mir gesprochen, mit seiner Ehefrau –
›halt dich da heraus oder du wirst es bereuen.‹
Also habe ich mich rausgehalten … Meistens. Eines Nachts wartete ich draußen vor dem Theater und folgte ihm heimlich. Er traf sich mit jemandem unter der Hochbahn in der Bowery. Den anderen konnte ich nicht richtig sehen, er blieb immer im Schatten – wenn es überhaupt ein Mensch war. Aber seine Stimme habe ich gehört, und es war das Schrecklichste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«
Rivka Asher drehte sich um, als fürchtete sie, die unheimliche Gestalt verberge sich in den dunklen Ecken, die das Gaslicht nicht erreichte.
»Sie stritten miteinander«, flüsterte sie. »Naftali war wütend und außer sich. Seine Stimme klang so, wie ich ihn nie habe sprechen hören. Er sagte, er habe genug davon, er wolle nicht weitermachen, sie sollten sich einen anderen suchen.«
»Einen anderen wofür?«, fragte Wolf. Er lehnte sich vor und sah sie eindringlich an. »Erinnern Sie sich?«
»Ich erinnere mich genau«, erwiderte Naftali Ashers Witwe. »Selbst wenn ich tausend Jahre lebte, immer würde ich die Worte hören und mich fragen, was ich für Naftalis Rettung hätte tun können. Er sagte:
›Sag deinem Meister, dass ich nicht weitermache. Ich muss schließlich hier leben – es geht mir nicht nur ums Geld. Und ich traue euch nicht, dass ihr das Geheimnis für immer bewahrt. Also sucht euch einen anderen, der für euch die schmutzige Arbeit macht!‹
«
»Und dann?«, bohrte Wolf.
»Dann sprach der Schatten, obwohl es eher ein Flüstern war, zu leise, um einzelne Wörter herauszuhören. Schon der bloße Klang bereitete Kopfschmerzen.«
»Haben Sie ihn verstehen können?«
»Nein. Aber Asher hat ihn verstanden. Jedenfalls gefiel ihm die Antwort überhaupt nicht. Dann sagte Asher:
›Es ist mir egal, was er mit mir machen will.‹
Und dann lachte Naftali ein grauenhaftes Lachen.
›Es gibt Schlimmeres als den Tod‹
, sagte er zu dem Schatten.
›Das solltest du besser wissen als jeder andere.‹
Und dann war Schluss. Asher ging fort, und ich musste ebenfalls rasch mein Versteck verlassen, um noch vor ihm zu Hause zu sein.«
»Den Mann im Schatten haben Sie also nie gesehen?«
»Nein, nie.«
»Können Sie mir irgendetwas über ihn sagen, wie klang seine Stimme?«
Rivka schauderte es, sie strich sich mit der Hand über die Stirn, als würde ihr die bloße Erinnerung körperliche Schmerzen bereiten. »Sie klang wie der
Baal Zaabeb
.«
Sascha stockte der Atem.
»Beelzebub«, sagte Wolf. »Der Teufel.«
»Das ist sein Name«, bestätigte Rivka, und ihre zarte Hand zitterte. »Wissen Sie, was Baal Zaabeb bedeutet? Ich meine, was die Wörter im Hebräischen bedeuten?«
Wolf schüttelte den Kopf.
»Es bedeutet: ›Gott der Fliegen‹. Und genau das habe ich gehört. Eine Stimme wie das Summen von tausend Fliegen.«
4 Ärger in der Hester Street
Als sie Rivka Asher verließen, war aus der Dämmerung schon Nacht geworden, und eigentlich hätten die beiden Lehrlinge schon längst zu Hause sein sollen. Dennoch blieb Wolf im schmuddeligen Treppenflur stehen und zögerte. »Ich mag euch so spät gar nicht allein in eine Droschke setzen, aber ich sollte wirklich Sam Schlosky finden, ehe – ehe mir andere zuvorkommen.«
Lily und Sascha sahen einander an. Beinahe hätte Wolf gesagt, dass er Sam aufspüren müsse, bevor Rivkas Tausendfliegenwesen ihn aufspürte. Die Lehrlinge dachten an die flüsternde Gestalt, die Rivka unter der Hochbahn gesehen hatte, und an die unheimliche Ähnlichkeit zwischen ihr und Meyer Minskys Schattenjäger.
»Weißt du wirklich nicht, wo diese Gänsefrau wohnt?«, fragte Wolf
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