Der Schattenjäger (German Edition)
heulte.
Der muskulöse Arm des Mannes holte kräftig und schwungvoll aus, der Schlagring blitzte wie Brillanten auf, und dann fuhr die Faust im Bogen auf Saschas Kopf nieder.
Plötzlich wurde alles dunkel.
22 Mordechai bekommt einen Job und Beka einen Antrag
Als Sascha wieder zu sich kam, lag er im großen und einzigen Federbett der Familie, und seine Mutter beugte sich über ihn. Mühsam stützte er sich auf die Ellbogen und schaute sich um. Beka war da und schien gesund, nur ihr Hut fehlte und ihre Haare waren zerzaust. Doch das Haus war in hellem Aufruhr.
»Wer hat dir das angetan?«, kreischte Mrs Kessler, als sie merkte, dass Sascha wieder bei Bewusstsein war.
»Die Pinkertons.«
»Und ich dachte, du arbeitest bei der Polizei!«
»Jetzt wohl nicht mehr«, sagte Beka in ominösem Ton. Sascha warf ihr einen flehenden Blick zu, worauf sie sich weitere Ausführungen verkniff.
»Und wo war Inquisitor Wolf, während du von erwachsenen Männern verprügelt wurdest?«, fragte Mrs Kessler zornig. »Ich hätte große Lust, ihm meine Meinung über einen Vorgesetzten zu sagen, der seinen Lehrling von einem zarten Mädchen retten lässt.«
»Bitte«, sagte Sascha, »können wir dieses Thema lassen, bis es mir wieder besser geht?«
Er musste wohl noch schlechter ausgesehen haben, als er sich fühlte, denn Mrs Kessler nickte zustimmend und begann, ihm behutsam die blutbefleckte Kleidung auszuziehen. Wenig später half sie ihm in ein warmes Bad, wickelte ihn dann in Handtücher und legte ihm eine kalte Kompresse auf die Nase. Sie schaffte es sogar, ihm mehrere Tassen heißer Hühnersuppe einzuflößen. Nach dieser Prozedur kroch Sascha wieder ins Bett und war eingeschlafen, ehe seine Mutter ihn richtig zugedeckt hatte.
In den folgenden Tagen versuchte Sascha, sich über seine Probleme Klarheit zu verschaffen. Doch immer wenn er an den armen Sam Schlosky und an die mahnenden Worte seines Großvaters dachte, im Kampf gegen den Dibbuk könne ihm niemand helfen, sah er als einzig wahre Lösung, dass er für den Rest seines Lebens im Bett blieb. Er konnte den Kopf eh kaum aus dem Kissen heben, ohne dass er sich drehte und ihm die Ohren dröhnten. Seine Mutter war strikt dagegen, dass er aufstand, und ihm fehlte die Kraft, mit ihr zu diskutieren.
Unterdessen lief der Streik auf vollen Touren weiter. Vor dem Haupttor der Pentacle-Textilfabrik lieferten sich die Pinkertons und die Näherinnen tagtäglich Schlägereien und Wortgefechte. Viele Mädchen hatten sich wie Beka das Haar kurz geschnitten, damit die Pinkertons sie nicht beim Schopf packen konnten. Eine Abordnung von Studentinnen des Vassar College, die mit dem Zug angereist waren, um ihre Solidarität mit den Streikenden zu bekunden, hatten sich ebenfalls alle die Haare kurz geschnitten. Schon bald sprach man im ganzen Land vom »Pentacle-Schnitt«. Keiner wusste so recht, wie es dazu gekommen war, aber der Streik wurde tatsächlich zu einem Modeereignis.
Oberbürgermeister Mobbs verkündete, die Polizei werde um jeden Preis die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, und ließ dazu auch die staatliche Miliz anrücken. Deren Mitglieder bescherten den Händlern und Wirten gute Geschäfte, denn sie wurden in allen Etablissements der Bowery gnadenlos ausgenommen. Das Treppenhaus der Mietskaserne, in der die Kesslers wohnten, verwandelte sich in ein öffentliches Durchgangslager, wo sich zu jeder Tageszeit Streikende aufhielten, und zudem hatte sich die IMW -Zentrale auf die Nachbarhäuser ausgebreitet, die aus allen Nähten platzten. Und der Streik ging immer noch weiter.
Schon bald wurden Saschas Eltern von Geldsorgen geplagt. Sie vermieden, vor den Kindern davon zu sprechen, aber Sascha und Beka waren lange genug arm gewesen, um zu wissen, was die geflüsterten nächtlichen Gespräche zu bedeuten hatten.
In der allgemeinen Düsternis gab es doch zwei Lichtblicke. Saschas Mutter hatte eine Ersatzstelle in einer anderen Textilfabrik gefunden, allerdings in der Nachtschicht.
Aber das eigentlich Erstaunliche war, dass Onkel Mordechai einen Job hatte. Eines Abends kam er eigens früher aus dem Café Metropol heim und erklärte, er sei nun willens, der kapitalistischen Maschinerie seine Arbeitskraft zu verkaufen, wenn der Weiterbestand der Familie anders nicht gesichert werden könne.
»Ich bin mit dem Nichtstun glücklich, wenn Nichtstun gut ist«, begann er, »aber ein Mann muss wissen, wann er Prinzipien beiseitezuschieben und der Wirklichkeit Tribut zu zahlen
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