Der Schattenjäger (German Edition)
hat. Nun ist für mich die Zeit gekommen, die Familie über die Moral zu stellen und meine jugendlichen Ideale der schnöden Welt zu opfern!«
Nach dieser pathetischen Ankündigung ließ er sich auf seinem Stuhl nieder und begann, die Stellenangebote zu studieren. Diese Aufgabe ermüdete ihn so sehr, dass er nach einer halben Stunde ins Metropol zurückkehrte, um sich »geistig zu erfrischen«. Er kam so erfrischt wieder, dass er seinen Elan kaum zügeln konnte.
»Ihr werdet nicht glauben, was mir gerade passiert ist«, trompetete er. »Die Gojim sagen, Gott helfe denen, die sich selber helfen, und das muss wohl stimmen, denn soeben habe ich einen herrlichen Job an Land gezogen. Aber keine Angst, kein richtiger Job, so schlimm ist es nicht! Das hier ist etwas, womit ich Geld verdienen kann, ohne auf den aufrechten Gang des Revolutionärs verzichten zu müssen. Ich werde Damen beglücken.«
»Wie bitte?«, kreischte Mrs Kessler. »Mordechai! Das tust du nicht! Und wenn du es doch tust, dann rede davon nicht vor den Kindern!«
»Nein, nein, es ist nicht, was du denkst. Die Sache ist harmlos und dezent. Also, vorhin treffe ich im Metropol Nathan Jablonski –«
»Nathan Jablonski!«, rief Mrs Kessler. »Von seiner Mutter weiß ich, dass er als Platzanweiser in einem Theater am Broadway arbeitet!«
»Das hat er seiner Mutter nur gesagt, weil er ihr erklären musste, warum er sich vergangenen Monat einen neuen Zylinderhut und einen Frack bei Bloomingdale gekauft hat. Wie Nathan berichtet, gibt es alle möglichen Anlässe, bei denen Damen gern einen gut aussehenden jungen Mann vorzeigen, von dem sie behaupten, dass er ihr Liebhaber oder doch nur ihr Verlobter sei. Nathans Geschäft ist nun, sich stundenweise für Abendgesellschaften, Bälle, Hochzeiten und so weiter zu vermieten – und das, obwohl er nicht annähernd so gut aussehend und charmant ist wie ich. Daran ist nichts Unmoralisches, es sei denn, du hältst es für unmoralisch, auf dem Debütantinnenball unter den Luchsaugen ältlicher Aufpasserinnen mit jungen Damen einen Foxtrott zu tanzen. Diese Schicksen wollen ja gar nicht wirklich von ihm geliebt werden, sie wollen lediglich auf ihn zeigen und behaupten können, dass sie seine Angebetete sind.
Nathan hat solchen Erfolg damit, dass er sich jetzt Prinz Jablonski nennt, sich eine teure Mietwohnung am Central Park leistet und vergangenen Monat einen exklusiven Vertrag mit einer Mutter aus der High Society abgeschlossen hat, die ihm die Rolle eines begehrten Junggesellen abkauft. Die Mutter hat eine Tochter, die dieses Jahr ihr Entree in die Gesellschaft vollzieht. Da an begehrenswerten Junggesellen offenbar großer Mangel herrscht, hält sie es für klug, ein Schaulaufen zu inszenieren, um den sportlichen Ehrgeiz in der Herrenwelt anzustacheln. Nun einmal ehrlich, würde ich nicht einen bombigen Junggesellendarsteller abgeben? Ist mir diese Rolle nicht wie auf den Leib geschrieben?«
Mrs Kessler schnaubte. »Mir scheint, dass du dir in dieser Rolle eher Prügel von einem eifersüchtigen Rivalen holst.«
»Oder gar von empörten Vätern«, setzte Mr Kessler in einem Ton hinzu, der keinen Zweifel ließ, dass er den Vätern das Recht dazu gab.
»Keineswegs!«, behauptete Mordechai ganz ungeniert. »Es besteht gar kein Grund zur Eifersucht, geschweige denn für empörte Väter. Ganz im Gegenteil. Das Geniale an Nathans Geschäftsidee ist ja gerade, dass es die Eltern sind, die uns mieten. Und für mich hat sich Nathan etwas ganz Besonderes ausgedacht. Wie ihr wisst, denken Reiche anders von der Heirat als wir. Für sie ist das eher eine Vereinigung von Bankkonten, nicht von Menschen. Aber junge Mädchen haben noch romantische Ideen. Und Nathan bietet den Eltern einen sicheren Weg, ihren Töchtern solche Ideen auszutreiben. Im Kern plant Nathan Folgendes: Ich soll mich als Graf Vogelonsky ausgeben, ein reicher russischer Adliger. Ich werbe um diese Mädchen – selbstverständlich diskret, ohne ihren Ruf zu gefährden –, und wenn sie mir dann ihre Liebe flüstern, werde ich meinerseits gestehen, dass ich nur ein armer Revolutionär bin, der als Graf posiert.«
»Mit anderen Worten«, fasste Mr Kessler zusammen, »du wirst sie belügen.«
»Wo ist denn da die Lüge?«, rief Mordechai. »Ich bin doch Revolutionär, wenngleich ich Gewalt aus ästhetischen Gründen verabscheue und mich eher als ein Sozialvisionär denn als beinharter Vertreter verstehe. Und arm bin ich.«
»Ich weiß ja, dass du nicht
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