Der Schattenjäger (German Edition)
musste!«
»Ich dachte, wir sind Freunde.«
»Falsch gedacht. Und ich brauche dein Mitleid nicht!«
»Das ist doch kein Mitleid!«, protestierte sie. »Im Übrigen bist du derjenige, der überhaupt nichts begreift!«
Plötzlich hörte Sascha ein Beben in ihrer Stimme. War es schon vorher da?
»Es geht um Freundschaft. Oder zumindest dachte ich das.«
Nun sah Sascha Lily zum ersten Mal wirklich an. Was er sah, überraschte ihn. Als sie sich in Wolfs Büro zum ersten Mal begegnet waren, hatte er sie für ein verzogenes Kind gehalten, dünn wie Papier und ohne Charakter hinter der Fassade aus blondem Haar, blauen Augen und feinen Kleidern. Aber mit der Zeit waren sie beinahe Freunde geworden. Nun sagte ihm die Stimme des Gewissens, dass er es war, der eine echte Freundschaft verhindert hatte. Er hatte Geheimnisse vor ihr, obwohl sie schon längst sein Vertrauen verdient gehabt hätte. Und dass es eine Kluft zwischen ihnen gab, lag nicht an ihrem Stolz, sondern – wie sollte er es anders nennen? – an seiner Aufgeblasenheit.
Das Mädchen, das ihn jetzt anschaute, hatte nichts gemein mit der Lily Astral, die ihn verachten würde, wenn sie von seiner Armut wüsste. Ja, ihre Augen waren auch gar nicht blau. Sie waren grün, nicht das helle, leuchtende und betörende Grün der Maleficia Astral, sondern ein Meeresgrün, das zwischen Grün, Blau und Grau changierte, je nach ihren lebhaften Stimmungen.
Und jetzt zeigten sie ein weiches, trauriges Regengrau.
»Entschuldige«, sagte Sascha, »ich wollte dir nicht wehtun.«
»Das hast du aber«, sagte sie und schniefte leise. »Aber ich verzeihe dir, das ist meine noble Art. Außerdem haben wir keine Zeit zu verlieren. Du musst dich beeilen, zurück ins Präsidium gehen und dich bei Wolf entschuldigen, bevor er einen neuen Lehrling einstellt.«
»Oh Lily, du kannst doch nicht so naiv sein zu glauben, ich könnte einfach zurückkommen!«
»Und ob du das kannst. Du brauchst nur –«
»Außerdem habe ich die Lehre geschmissen. Ich habe gesagt, dass ich gehe, und ich habe es ernst gemeint.«
»Das ist feige!«, sagte Lily heftig.
»Ich bin schon froh, wenn Wolf es dabei belässt und mich nicht verhaftet oder mich zwingt, den Lehrlingslohn zurückzuzahlen oder etwas Ähnliches.«
Doch Lily wollte davon nichts hören. »Wenn du gehst«, sagte sie und nahm eine Haltung an, die ihn vage an Teddy Roosevelt erinnerte, »dann schenkst du den J. P. Morgaunts dieser Welt den Sieg. Du verzichtest auf die Chance, die Dinge, dein Leben, die Welt besser zu machen. Und dann wärst du auch nicht mehr mein Freund. Also steh auf, zieh dich an und hol dir deinen Job zurück. Ich warte draußen auf dich. Du hast fünf Minuten.«
Dann marschierte sie, an der verblüfften Mrs Kessler vorbei, bis zur Tür, öffnete sie und schleuderte Sascha zur Warnung entgegen:
»Und dass ich nicht noch einmal wiederkommen muss!«
Nach diesem Abgang konnte Sascha nur noch mit den Schultern zucken und sich ihrem Befehl fügen.
24 Ist in New York Platz für einen ehrlichen Inquisitor?
Als Sascha und Lily die Dienststelle betraten, standen Wolf und Payton eng beieinander und waren so ins Gespräch vertieft, als ob sie etwas beredeten, was die beiden Lehrlinge sicher nicht hören sollten.
»Deine Kündigung liegt auf Paytons Schreibtisch«, sagte Wolf und machte eine lässige Handbewegung. »Du brauchst nur zu unterschreiben und dann kannst du deine Sachen zusammenpacken. Keine weiteren Formalitäten.«
Sascha fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Er war unsicher, ob er den Job überhaupt wiederhaben wollte, aber dass Wolf es nicht einmal für nötig hielt, ihn danach zu fragen, empfand er als demütigend. Hätte ihm Lily nicht den Weg nach draußen versperrt, wäre er auf der Stelle wieder gegangen. Doch sie räusperte sich bedeutungsvoll, gab ihm einen Stoß in die Rippen und schob ihn in Wolfs Büro.
»Was denn?«, fragte Wolf, als sei ihm die Störung lästig.
»Ich, äh, ich … kann ich Sie sprechen?«
»Gewiss. Setz dich.«
Im nächsten Augenblick, so als wäre alles schon im Voraus abgesprochen gewesen, zog sich Payton diskret aus dem Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich.
»So, worum geht es denn?«, fragte Wolf.
Sascha merkte erst jetzt, was ihm schon während der langen Fahrt in der U-Bahn hätte bewusst werden können, nämlich dass er Wolf nichts zu sagen hatte.
Er stotterte eine halbherzige Entschuldigung, doch Wolf unterbrach ihn gleich.
»Vergiss das«,
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