Der Schattenjäger (German Edition)
im engen Kreis auf dem Treppenabsatz und nestelte an ihrem Kleid. Schließlich fasste sie sich ein Herz.
»Was weißt du über Mamas neue Arbeit?«
»Nichts. Es geht um Näharbeit. Was sie immer schon gemacht hat.«
»Aber wir wissen nicht einmal, wo genau sie jetzt arbeitet.«
»Ich dachte, du wüsstest das«, sagte Sascha verlegen.
Doch Beka schüttelte nur den Kopf.
»Und? Warum bist du plötzlich so besorgt?«
»Weil«, sagte Beka mit gesenkter Stimme, »eins der Mädchen aus der IMW -Zentrale in der Reinigungskolonne bei Pentacle gearbeitet hat. Als Spionin, versteht sich. Wir haben Mädchen beim Reinigungspersonal, die melden sollen, wenn bei Pentacle nachts Streikbrecher arbeiten. Und dieses Mädchen hat gesagt, sie habe unsere Mutter vergangene Nacht dort gesehen.«
»Das ist unmöglich.«
»Sie ist sich aber ziemlich sicher.«
»Was willst du damit sagen?«
Beka blickte sich um, als fürchtete sie, jemand aus der IMW -Zentrale könnte ihr auch nachspionieren. »Ich will damit gar nichts sagen«, flüsterte sie, »ich habe einfach nur Angst.«
»Wovor?«, fragte Sascha.
»Denk doch mal nach, Sascha, und zieh die entsprechenden Schlüsse! Die Streikenden haben die Pentacle-Textilfabrik abgeriegelt, aber Morgaunt beliefert nach wie vor die großen Kaufhäuser der Stadt mit Hemden und Blusen. Alle glauben, Morgaunt habe einen heimlichen magischen Helfer. Die Frage ist bloß: Wen?«
»Moment mal. Du behauptest also, dass du unsere Mutter für Morgaunts heimliche Verbündete hältst? Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe!«
»Sascha, wach auf! Ihr Vater war der größte Wunderrabbi in ganz Russland! Glaubst du nicht, sie könnte von dieser Gabe etwas geerbt haben?«
»Sie arbeitet nicht heimlich für Morgaunt!«
»Warum nicht?«
»Weil, ach, das tut sie einfach nicht.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Weil für sie die Familie das Wichtigste auf der Welt ist«, platzte Sascha heraus. »Wenn das stimmt, was du da sagst, dann würde das unsere Familie zerreißen!«
Aber Beka schüttelte nur den Kopf.
»Das ist doch Wahnsinn«, sagte Sascha. »Du weißt selber, dass Mama alles für uns tun würde!«
Er starrte Beka an, erschrocken über die Worte, die er selbst gerade gebraucht hatte, und nicht weniger über Bekas Gesichtsausdruck.
»Das ist es ja gerade«, sagte Beka.
23 Lily nimmt die U-Bahn
Am folgenden Morgen hörte Sascha schließlich das Geräusch, vor dem ihm die ganze Zeit gegraust hatte: das Pochen eines Fremden an der Wohnungstür. Zum Glück war es Samstagmorgen. Sein Vater und sein Großvater waren in der Synagoge, Mordechai probte im Volkstheater und Beka war einfach nicht da. Außer Sascha war nur seine Mutter zu Hause.
Mrs Kessler machte eine ängstliche und fragende Miene. Von den Bewohnern der Mietskaserne machte sich keiner den Umstand, vor dem Eintreten anzuklopfen. Wer aber nicht hier wohnte, der kam auch nicht auf den Gedanken, hier einen Besuch abzustatten.
Als seine Mutter die Tür öffnen ging, verkroch sich Sascha hinter dem Kopfkissen und zog die Decke bis zum Kinn hinauf. Er kam sich wie ein Feigling vor, doch es war stärker als er selbst. Er wusste genau, was ihn erwartete: Maximilian Wolf in voller Uniform würde ihm den Rausschmiss offiziell bestätigen oder, schlimmer noch, er würde ihn verhaften und ins Gefängnis stecken wegen Ungehorsam im Dienst und Fahnenflucht. Doch als die Tür aufging, stand nicht Wolf im Flur, sondern Lily Astral.
»Mach den Mund zu«, sagte Lily frech. »Du siehst aus wie ein Karpfen in der Auslage in Chinatown.«
Sie trat ein, glitt elegant um die Ecke zwischen Kohleherd und Küchentisch und setzte sich auf den Stuhl, den ihr Saschas Mutter in aller Eile hingestellt hatte.
Wegen Mordechais Unart, zu kippeln und die Beine auf den Tisch zu legen, war der Stuhl schon vor langer Zeit einmal gebrochen. Nun quietschte und wackelte er sogar unter Lilys Federgewicht besorgniserregend. Mrs Kessler warf sich lässig das Geschirrtuch über die Schulter und sagte: »Achte gar nicht darauf, Kleines, der Stuhl hält schon noch. Du kannst nicht mehr als ein gerupftes Huhn wiegen!«
»Wie bist du hierhergekommen?«, fragte Sascha. Bei dem heillosen Durcheinander, das jetzt in seinem Kopf herrschte, wusste er nicht so recht, was er sagen sollte.
»Mit der U-Bahn!« Lily schien ganz hingerissen. »Eine herrliche Erfindung. Ich wusste das gar nicht. Warum hast du mir nicht früher davon erzählt? Aber darum geht es nicht.
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