Der Schattensucher (German Edition)
nach Hause gekommen zu sein. Jetzt wusste er wieder, dass er nur sich selbst hatte. Und er fühlte sich daran erinnert, dass man Menschen nicht trauen konnte. Was hatte ihn nur dazu getrieben, anderen Leuten so vieles in die Hand zu geben, was er selbst nicht mehr beeinflussen konnte? Das hatte er nun davon. Es hätte ihn beinahe alles gekostet. Heute Nacht genügte es ihm, wenn er mit seinem bloßen Leben und seiner Freiheit davonkam.
Um nicht an Elena oder Thanos denken zu müssen, stellte er sich vor, in welcher Stadt er wohl am besten weitermachen konnte. Infrage kamen Faiza in der Mitte von Baldurien oder Ghazal an der Südküste. Wie er gehört hatte, herrschte an diesen Orten am meisten Leben und – das war für Levin das Wichtigste – am meisten Durcheinander. Für beide Ziele würde er Tage brauchen, selbst wenn er mit dem Pferd reiste. Aber das fiel kaum ins Gewicht. Viel mehr Zeit würde es kosten, sich an diesen Orten neu zu orientieren. Er würde die Straßen erforschen, Schlafplätze suchen müssen. Es war alles kein Problem, solange es nur ein paar reiche Leute gab, und die gab es überall.
Er kam zu den Ställen. Welches der Pferde sah am zuverlässigsten aus? Es musste nicht schnell sein, viel wichtiger war, dass es lange durchhielt. Er band eine kräftige Stute los und wollte sie langsam über den Hof führen. Da erblickte er drüben am Tor eine Menschenansammlung. Es waren lauter Soldaten, die um einen Reiter herumstanden, der offenbar eben eingetroffen war. Levin blieb stehen, als er erkannte, dass es sich um Jason handelte.
Mist! Ich bin ein paar Minuten zu spät. Also schön, dann eben den umständlichen Weg.
Auf der Stelle drehte er sich um, ließ das Pferd los und huschte in Richtung Kaserne. Es blieb ihm nicht viel Zeit, dann würde Jason die gesamte Wache alarmieren und ihn suchen lassen. Levin ertappte sich dabei, wie er an Elena dachte. Wird sie es rechtzeitig schaffen? Natürlich schafft sie es , versuchte er sich einzureden. Sie ist durchtrieben und wird immer durchkommen. Solange Jason mich nicht hat, wird ihn Elena wenig interessieren.
Er schaute sich um, ob sie ihn vielleicht wieder verfolgte. Aber da war keiner. Durch die Kaserne gelangte er in den Innenhof und in den Palast.
Diesmal schauten die Wachen ihm verdutzt nach, als er erneut mit dem großen Beutel auf dem Rücken durch das Gebäude zog. Er hielt sich mit Erklärungen zurück und beeilte sich, nach oben zu kommen. Der Wächter vor Thanos’ Gemach fragte ihn ungläubig, warum er schon wieder hier sei.
»Habe noch etwas vergessen«, sagte Levin und ging ins Labor. Wenigstens musste man sich als Hauptmann nicht rechtfertigen. Er wollte keinen Halt machen, sondern sogleich hinter dem Feuer verschwinden. Doch plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Seine Augen richteten sich auf die Tür zum Gemach des Grafen.
Ach, Thanos, du hättest mich beinahe gekriegt , sagte er sich und spürte die Demütigung, die dieser Gedanke mit sich brachte. Wäre er heute Nacht in Alsuna geblieben, wäre alles bestens gewesen. Aber nein, Levin war zurückgekehrt wie ein reumütiger Hund zu seinem Herrn. Er, Levin, hatte sich verloren. Nein, dafür konnte er Thanos nicht ungestraft lassen. Einfach verschwinden und vergessen werden? Niemals.
Entschlossen ging er auf die Tür zu und zog den Draht aus der Tasche. Er hatte nichts verlernt. Mit schnellen, gezielten Bewegungen schaffte er es in wenigen Sekunden, das Schloss zu öffnen. Ganz leise drückte er die Klinke hinunter. Er horchte ins Dunkel hinein und nahm nur ein leises Schnarchen im hinteren Teil des Raumes war. Er streckte den Kopf durch den Spalt und sah, wie neben dem Bett eine Kerze flackerte; vermutlich war Thanos über einer Schriftrolle eingeschlafen. Rasch schlüpfte Levin hinein und schloss die Tür hinter sich.
Jetzt waren sie miteinander allein. Er schlich zum Bett hinüber und betrachtete den alten Mann im fahlen Licht. Eine leichte Decke hüllte ihn ein, er lag auf der Seite, eine Hand unter seiner Wange. Es war kein wirkliches Schnarchen, eher ein kratziges Atmen. Selbst in der Nacht hatte Thanos die Haare zusammengebunden. Am Kragen sah Levin das weiße Schlafgewand hervorblitzen.
Verbohrter Sturkopf , dachte er. Es ist eine Schande, dass du hier so ruhig schlafen kannst. Albträume solltest du haben. Darin sollten sie dich alle verfolgen: Alvin, Tychon und wen du sonst noch aus dem Weg geräumt hast. Aber stattdessen liegst du da und schlummerst vor dich
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