Der Schattensucher (German Edition)
Türen. Zwei Wachen patrouillierten in diesem Bereich des Gebäudes.
»Hier sind die Gemächer des Erbauers«, sagte der Diener. »Er hat mich vermutlich schon kommen hören. Er erwartet Euch in der Bibliothek.«
Er öffnete die Tür, warf einen kurzen Blick in den Raum und winkte Levin herein. »Euer Gast, Herrlichkeit«, sagte er und schloss die Tür von außen.
Zunächst sah Levin nur die Menge an Bücherregalen, die kaum noch etwas von der Wand erkennen ließen. Nur von den hohen Fenstern wurden sie stellenweise unterbrochen. Es war ein länglicher Raum, in dessen Mitte sich ein langer Eichentisch erstreckte. Am Ende des Tisches stapelten sich einige Büchertürme und dahinter, jetzt erst sah er es, steckte ein grauer Kopf in einer Schriftrolle.
Eine Weile stand Levin einfach da und fühlte sich beklommener, als wenn er die Wachen in seinem Rücken gehabt hätte. Er war allein mit dem Grafen. Oder war das überhaupt der Graf?
Irgendwann grummelte es hinter den Bücherstapeln hervor: » Manche Mineralien müssen bis aufs Kleinste zerlegt werden, damit man den kostbaren Stoff aus ihnen gewinnen kann. Die anfängliche Ernüchterung verwandelt sich in schier unbändige Faszination. Interessant, es so auszudrücken. Aber vermutlich kann man ihm recht geben, nicht wahr?«
Levin blieb stehen und schaute nur befremdet zurück.
»Allgemeine Erkenntnisse sind eben immer durch die eigene Erfahrung gefärbt. Schön hell hier, nicht?« Endlich schaute er auf.
»Sicher doch«, sagte Levin schnell.
»Ich liebe diesen Raum, weil man hier ins Gebirge und hinunter in den Hof sieht.« Er hielt inne und machte ein säuerliches Gesicht. »Also wollt Ihr nun näher kommen oder nicht? Soll ich den ganzen Tag durch den Raum schreien?«
»Nein, natürlich nicht.« Levin schritt zum Grafen hinüber, blieb aber in angemessenem Abstand stehen. Der Graf war schon wieder in seinen Text vertieft. Erst jetzt konnte Levin erkennen, dass er seine langen grauen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
»Es ist äußerst selten, dass ich einen solchen Schatz unter unseren Schriften entdecke. Die meisten kenne ich und die allermeisten sind Auslegungen der Fünf Ehernen Regeln ; das, was die Brianer am besten können. Hier haben wir es mit einem zwar jungen und ungehobelten, aber durchaus talentierten Forscher zu tun.« Er schaute wieder auf. »Lest Ihr auch gerne in wissenschaftlichen Schriften?«
»Eher selten«, log Levin, der nie über die Überschrift hinausgekommen war.
»Solltet Ihr. Auch wenn Ihr kein Forscher seid. Schon das Wissen um die Dinge kann einem ungeahnte Vorteile bringen.« Er rollte das Papier zusammen. »Ihr schaut etwas verdutzt.«
»Verzeiht, Herrlichkeit. Ich bin noch ein wenig irritiert, dass wir so …«
»… ungestört sind?«
»Ja.«
»Ich bin nun einmal gerne mit meinen Gästen allein. Alles andere fühlt sich doch sehr ungemütlich an. Wenn es Euch lieber ist, kann ich auch gerne die Wachen hereinholen.«
»Nein, nein.«
»Wollt Ihr etwas zu trinken?«
Levin lehnte ab. Was im Moment geschah, war alles andere als das, worauf er sich eingestellt hatte. Nirgends war der Thron, keine Bediensteten schwirrten um sie herum, es gab keine Audienzregeln, der Graf trug ein braunes Hausgewand, mit dem Levin sich nie in der Öffentlichkeit gezeigt hätte.
Sein Plan war es gewesen, den Grafen in ein harmloses Gespräch zu verwickeln, das möglichst wenig Verdacht aufkommen ließ und ihm einige nützliche Informationen lieferte. Dabei wollte er sich die Räume genau anschauen, um festzustellen, wo er heimlich eindringen und sich verstecken konnte. Nichts von alledem schien jetzt noch bedeutend. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, sich auf den Grafen zu stürzen und ihn zu überwältigen; so leicht, dass ihm angst wurde. In keinem Haus, das er bislang beraubt hatte, war es ihm so leicht gemacht worden. Doch genau das verwirrte ihn so sehr, dass er ausschließlich damit beschäftigt war, nach dem Haken zu suchen.
»Lasst mich raten: Ihr wollt nicht riskieren, dass Euch die Blase drückt, wenn Ihr zu viel trinkt. Ein ärgerliches Problem, wenn man zu Besuch ist.« Er lachte. Levin erschrak, als er feststellte, wie ungekünstelt und lustvoll das Lachen war.
Levin fiel keine witzige Erwiderung ein, auch wenn er sie in diesem Moment als angebracht empfunden hätte.
»Also gut«, setzte der Graf fort. »Wie wollt Ihr mich nun nennen?«
»Ist Erbauer das falsche Wort?«
»Nicht unbedingt. Irgendwie haben die
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