Der Schattensucher (German Edition)
ab.«
»Kennst du sie schon länger?«
»Das kann man wohl sagen. Senatorin Thekla ist eine sehr umgängliche Frau, auch wenn man sich vor ihrer Raffinesse hüten muss. Sie weiß genau, was sie will, und man darf sich nicht dem Irrtum hingeben, dass man sie zu etwas umstimmen könnte. Und Senator Gereon? Ich glaube, er hat sein Leben lang keine wirklichen Feinde gehabt, wenn man von einigen konkurrierenden Kaufleuten absieht. Im Vergleich zu seinem Großvater ist er etwas vernünftiger.«
Levin runzelte die Stirn, dann sagte er: »Ich vergesse immer wieder, dass du alle unsere Vorfahren wie gewöhnliche Zeitgenossen erlebt hast.«
»Verrückt, nicht wahr? Der Großvater war damals als hitziger Jungspund mein Schüler. Heute ist sein Enkel ein alter Mann, der mich um meine grauen Haare beneidet.«
Levin wollte weiter nach dem Großvater fragen, da öffneten sich die Flügeltüren. Ein Diener kündigte die Gäste an.
Gereon und Thekla schritten, gefolgt von vier Stadtwachen, so unbeeindruckt in den Raum, als sei es der Senatssaal. Levin stand aufrecht an seinem Platz und stellte beruhigt fest, dass Thekla ihn nicht erkannte. Die beiden Senatoren wussten offenbar bereits, wo ihre Plätze waren, denn sie gingen an unterschiedlichen Seiten den Tisch entlang und grüßten. Der Graf erhob sich, grüßte zurück und setzte sich. Ehe Thekla ihren Platz einnahm, überreichte sie dem Grafen ein in Fell eingewickeltes Päckchen.
»Verehrter Graf, dieses Geschenk soll ich Euch im Namen einer Gruppe überreichen, die Euch sehr verehrt.«
»Ich danke Euch, Senatorin. Schön zu wissen, dass es so etwas auch noch in Alsuna gibt«, scherzte er und wandte sich an Levin. »Ich bitte dich, Linus, das Geschenk in die Bibliothek zu bringen. Ich möchte es mir später in aller Ruhe anschauen.«
Levin nahm das Päckchen, nickte überrascht und ging davon. An der Tür musste er zwischen zwei der Stadtwachen hindurch, die sich rechts und links postiert hatten. Ein ihm vertrautes Gefühl der Verachtung, vermischt mit Nervenkitzel, überkam ihn. Wie sehr hatte er es doch vermisst. Wie zwei alte Freunde kamen sie ihm vor, diese Gestalten, die pflichtbewusst dastanden und glaubten, er sei so etwas wie ein Artverwandter. Zu schade , dachte er sich, dass ich mich jetzt zusammenreißen und den Dienstboten spielen muss.
Er ging hinaus, überquerte den Flur und betrat die Bibliothek. Niemand war hier, doch er war sich bewusst, dass er aus der Bücherwand von Tobes angestarrt wurde. Zunächst wollte er das Päckchen auf dem Tisch an Thanos’ Platz ablegen und schnell in die Halle zurückkehren. Da merkte er, dass sich das Päckchen vertraut anfühlte. Es waren das Gewicht und die Form. Ein Buch. Sicher, sonst hätte es Thanos nicht gleich in die Bibliothek bringen lassen. Aber woher wusste er, dass es sich um ein Buch handelte?
Er konnte nicht anders. Levin stellte sich so vor den Tisch, dass Tobes nur seinen Rücken sehen konnte, und schlug vorsichtig eine Ecke des Fells zurück. Zuerst sah er nur einen blauen Ledereinband, dann erkannte er den Schriftzug: Gefährliche Pflanzen des Reimutgebirges .
Er wollte das Fell rasch zurückklappen, da entdeckte er, dass ein gelbes Stück Papier mit eingewickelt war. Wenn er es entfaltete, würde Tobes sicher misstrauisch werden.
Schnell zog er das Papier heraus, klappte das Fell zurück und entfernte sich von dem Päckchen, so als habe er nichts weiter getan, als es besonders sorgfältig an den Platz des Grafen zu legen.
Als er den Raum verlassen hatte, wollte er das Papier öffnen, doch er kam nicht dazu. Eine Wache schlenderte vorbei, grüßte ihn und fragte, warum er nicht drinnen sei. Levin gab eine rasche Erklärung und kehrte in den Empfangssaal zurück. Während er langsam zu seinem Platz zurückkehrte, musterte er Thekla von oben bis unten.
Von wegen diplomatisches Treffen. Dieses Teufelsweib! Schwingt sich zur Hüterin der Stadt auf und beliefert den Grafen mit Giftbüchern. Er hat recht, sie ist gerissen. Keiner im Senat würde so etwas vermuten. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich Thanos den Schmöker persönlich gebracht , sagte er sich und unterdrückte das zynische Zucken seines Mundwinkels.
»Nein«, sagte Thanos und fügte hinzu: »Meine Antwort hat sich nicht verändert.«
»Wir hätten es auch nicht anders erwartet«, sagte Gereon. »Manche Dinge bleiben wohl, wie sie sind. Aber der Senat hat diesmal auch Forderungen formuliert, die Ihr noch nicht kennt.«
»Ich bin
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